Präzisionsmassenmessung an Palladium-110 weisen Weg zur Natur der Neutrinos
MPIK
In der Neutrinophysik spielt der Betazerfall eine wichtige Rolle. Schon 26 Jahre vor der ersten Beobachtung eines Neutrinos schlug Wolfgang Pauli 1930 in einem Brief dessen Existenz vor, insbesondere deswegen, weil die Energie der beim Betazerfall freigesetzten Elektronen ein kontinuierliches Spektrum zeigt und somit bei Gültigkeit des Energiesatzes ein weiteres Teilchen die Überschussenergie aufnehmen müsste. Beim Betazerfall eines Atomkerns wandelt sich ein Neutron unter Aussendung eines Elektrons und eines Antineutrinos in ein Proton um. Dabei bleibt die Zahl der Leptonen, zu denen Elektronen und Neutrinos zählen, erhalten (Antiteilchen zählt man negativ).
Neutrinos haben eine Reihe bemerkenswerter Eigenschaften: Sie sind elektrisch neutral und wechselwirken mit der übrigen Materie nur sehr schwach, so dass sie diese nahezu ungehindert durchdringen. Unbekannt sind aber noch die Absolutwerte der Neutrinomassen und die Frage, ob Neutrinos sogenannte Majoranateilchen und damit ihre eigenen Antiteilchen sind. Letzteres hat grundsätzliche Konsequenzen für die Teilchenphysik und Kosmologie und daher unternehmen Forscher große Anstrengungen, dies experimentell zu testen.
Ein möglicher Nachweis der Majorana-Eigenschaft wäre die Beobachtung des neutrinolosen doppelten Betazerfalls. Normalerweise entstehen dabei aus zwei Neutronen zwei Protonen sowie zwei Elektronen und zwei Antineutrinos, die den Kern verlassen. Ist aber das Neutrino mit seinem Antiteilchen identisch, so kann es nach der Entstehung beim Zerfall des einen Neutrons vom anderen Neutron gleich wieder verschluckt werden, so dass nur die beiden Elektronen ausgesendet werden und praktisch die volle Zerfallsenergie mit sich tragen. Ein solcher neutrinoloser Prozess ist sehr unwahrscheinlich – hier geht es um Halbwertszeiten, die das Alter des Universums um viele Größenordnungen übersteigen. Um ihn überhaupt zu beobachten, bedarf es eines geeigneten Radionuklids in ausreichender Menge und eines großen experimentellen Aufwandes, um genau diesen Zerfall aus der Fülle von Hintergrundereignissen zu isolieren. Ein Beispiel für einen solchen Versuch ist das GERDA-Experiment im italienischen Gran-Sasso-Untergrundlabor. Untersucht wird dort das Germanium-Isotop mit der Massenzahl 76.
Neben Germanium-76 gibt es noch einige wenige weitere Nuklide, die als Kandidaten für die Suche nach dem neutrinolosen Doppelbetazerfall in Frage kommen könnten: darunter Palladium-110. Eine Eingangsgröße in die Berechnung der Halbwertszeit ist die beim Zerfall freigesetzte Energie. Nach Einsteins Formel E=mc^2 ist diese Energie äquivalent zur Massendifferenz von Mutter- und Tochternuklid des Zerfalls (zuzüglich der doppelten Elektronenmasse). Die ISOLTRAP-Kollaboration hat nun mit Ihrem Penningfallen-Massenspektrometer am CERN die Massendifferenz von Palladium-110 und seinem Tochternuklid Cadmium-110 mit bisher nicht erreichter Genauigkeit ermittelt. Hierzu wurde die kreisende Bewegung einfach geladener Palladium- bzw. Cadmium-Ionen im Magnetfeld einer speziellen Ionenfalle vermessen und aus der daraus gewonnenen Massendifferenz die gesuchte Zerfallsenergie zu 2017,85 keV (±0,64 keV) bestimmt. Das neue Ergebnis liegt 14 keV über dem bisherigen Wert; zugleich konnte die Unsicherheit gegenüber dem besten früheren Wert um fast das 20-fache verringert werden.
Der Zerfall wird neben der freigesetzten Energie entscheidend durch die Kernstrukturen von Ausgangs- und Tochterkern bestimmt. Die quantitative Beschreibung erfolgt durch sogenannte Matrixelemente, die von Kollegen der Partnerinstitute berechnet wurden. Aus diesen Eingangsdaten ergibt sich die Halbwertszeit für den gewöhnlichen Doppelbetazerfall von Palladium-110 zu 1,5x1020 Jahren. Anschaulich bedeutet diese astronomisch hohe Zahl, dass in 1 kg Palladium-110 pro Tag ca. 70 gewöhnliche Doppelbetazerfälle auftreten.
Die Halbwertszeit für den neutrinolosen Doppelbetazerfall hängt zusätzlich von der Neutrinomasse ab, für die bislang nur eine obere Grenze bekannt ist. Mit den derzeit diskutierten Werten für die Neutrinomasse ergeben sich 5x10^24 bis 1x10^25 Jahre – das wären bei 100 kg Palladium-110 ca. 40 bis 80 neutrinolose Doppelbetazerfälle pro Jahr. Trotz dieser kleinen Zahl rückt damit Palladium-110 aufgrund seines recht hohen Vorkommens (gemessen an der Weltjahresproduktion das Dreifache von Germanium-76) in den engeren Kreis vielversprechender Kandidaten für Studien zum doppelten Betazerfall und der Suche nach der Neutrinomasse, zumal aufgrund der hohen Genauigkeit der neuen Massenbestimmung der Suchbereich der elektronischen Energien für diese Ereignisse stark eingeschränkt werden konnte. Für einen möglichen zukünftigen Detektor mit Palladium-110 müssen freilich weitere Voraussetzungen erfüllt sein, die nicht Gegenstand der aktuellen Untersuchungen waren. Hierzu sind vor allem noch Fragen der radiochemischen Reinigung, Detektionsverfahren und Kontrolle von Hintergrundereignissen zu klären, die wie bei anderen Neutrino-Experimenten eine erheblich technische Herausforderung darstellen.
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