Kleine Tropfen wachsen anders
© Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation
© Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation
Schlägt sich Feuchtigkeit auf einer kühleren Oberfläche nieder, geschieht dies Schritt für Schritt: Einzelne Wassermoleküle vereinigen sich zunächst zu winzigen Tröpfchen von nur wenigen Mikrometern. Während diese weiter an Größe zunehmen, wachsen in den Zwischenräumen ununterbrochen kleinere Exemplare nach, die sich mit der Zeit mit ihren größeren Brüdern vereinigen können. Bisher gingen Forscher davon aus, dass die Verteilung der Tröpfchengröße einem festen Gesetz folgt – unabhängig davon, ob es sich um die frühe, mittlere oder späte Wachstumsphase handelt: Während kleine Tröpfchen häufig vorkommen, treten solche mit zunehmender Größe immer seltener auf. Solche so genannte Potenzgesetze beschreiben zahlreiche Verteilungen in Natur und Technik, etwa die der Größe von Mondkratern, die Häufigkeitsverteilung von Elementen in der Erdkruste und von Wörtern in Texten.
Die jüngsten Ergebnisse der Göttinger Wissenschaftler zeigen jedoch, dass ein und dasselbe Gesetz nicht die gesamte Wachstumsphase der Tröpfchen treffend beschreibt. Besonders zu Beginn des Wachstums – also sozusagen in der frühen Kindheit der Tröpfchen – folgt ihr Verhalten nicht den Vorgaben der Skalentheorie. „Zwar gibt es nach wie vor viel mehr kleine Tropfen als große. Doch man beobachtet deutlich weniger kleine Tröpfchen als erwartet“, beschreibt Jürgen Vollmer, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, der die Studie leitete, die Ergebnisse. Das erklären die Forscher damit, dass die kleinen Tropfen ihrer Kindheit schneller entwachsen, als die Skalentheorie vermuten lässt. In ihrer letzten Wachstumsperiode wachsen die Tröpfchen dagegen deutlich langsamer als bislang angenommen.
Um diese Abweichungen festzustellen, muss man ganz genau hinsehen. Mit ihrem Team betreiben Jürgen Vollmer und Björn Hof, der ebenfalls am Göttinger Max-Planck-Institut forscht, die Kunst des „Tropfenzählens“ auf zweierlei Art: im Experiment und in der Simulation am Computer. „Der grundsätzliche Aufbau des Experiments erinnert an einen Topf mit kochendem Wasser und einen Deckel“, sagt Tobias Lapp, der einen Großteil der Experimente vornahm. In einem Behälter, der oben mit einer durchsichtigen Folie verschlossen ist, erhitzen die Forscher Wasser unter genau kontrollierten Bedingungen. Eine Kamera, die oberhalb der Folie angebracht ist, erzeugt sechsmal pro Sekunde eine Momentaufnahme des Tröpfchenmusters. Mit speziell entwickelten Computerprogrammen lassen sich die Aufnahmen dann auswerten. „Dafür muss jeder Tropfen als solcher erkannt und einer bestimmten Größenklasse zugeordnet werden“, so Lapp.
Zweites Standbein der Studie sind numerische Simulationen. „Am Rechner lässt sich gut nachvollziehen, wie sich Feuchtigkeit auf einer Oberfläche niederschlägt“, erklärt Vollmer. „Und zwar Tröpfchen für Tröpfchen.“ In den Simulationen trifft das Wasser gleichmäßig auf eine Fläche und bilden dort zunächst winzige Tröpfchen, die durch den weiteren Niederschlag von Wasser allmählich wachsen. Immer wieder kommt es dabei zu Zusammenstößen, bei denen sich mehrere kleinere zu einem großen Tröpfchen zusammenfinden. „Um den Wachstumsprozess genau zu verfolgen, müssen wir gleichermaßen sowohl die winzigen jungen Tropfen, als auch die deutlich älteren großen numerisch im Blick haben“, erklärt Johannes Blaschke, der die Simulationen in seiner Master-Arbeit entwickelte und durchführte, die Schwierigkeit der Methode. Zudem war es nötig, über mehrere hundert Simulationen zu mitteln. „Einen solchen numerischen Aufwand hat bei dieser Fragestellung bisher noch niemand betrieben.“
Der Lohn der aufwändigen Tröpfchenzählerei: Die Forscher konnten sowohl in der sehr frühen, als auch in der sehr späten Wachstumsphase einen deutlichen Wachstumsknick identifizieren. „Das Potenzgesetz ist somit nicht mehr haltbar“, bilanziert Vollmer und ergänzt: „In den Experimenten finden sich mehr Ausnahmen als Kandidaten, die der Regel folgen.“
Auch um das neue Ergebnis zu erklären, muss man das Tröpfchenwachsen ganz genau betrachten. Grundsätzlich gibt es drei Mechanismen, durch welche sich ein bestehendes Tröpfchen vergrößern kann: Zwei etwa gleichgroße Tropfen können verschmelzen, ein kleines Tröpfchen kann sich bis zum Rand eines deutlich größeren ausdehnen und dann geschluckt werden oder die Tröpfchen wachsen durch den Niederschlag. Am Anfang sind die Tröpfchen noch sehr weit verteilt und sammeln deshalb den Niederschlag besonders effizient ein: Auch das Wasser, das zunächst in ihrer Nachbarschaft landet, wandert über die Oberfläche zu ihnen. Gegen Ende des Wachstumsprozesses existieren bereits so viele Tropfen, dass die Nachbarn solche „indirekten Treffer“ aufnehmen. Die besonders großen Tropfen hingegen, treffen kaum noch auf größere, von denen sie geschluckt werden – ihr Wachstum verlangsamt sich somit drastisch.
Die Ergebnisse der Forscher könnten in Zukunft auch technischen Anwendungen zu Gute kommen, die auf die speziellen Eigenschaften von Tropfen setzen. Da sie effektiv Wärme aufnehmen können, sind sie etwa in der Kältetechnik besonders gefragt. Ein besseres Verständnis ihres Entstehungsprozesses kann hier energiesparendere Methoden ermöglichen. Und auch moderne und wassersparende Bewässerungsmethoden leben davon, gezielt Tröpfchen einer bestimmten Größe zu erzeugen – auch dabei könnte eine genaue Kenntnis ihrer Wachstumsphasen helfen.