„Ziehen statt kochen“: Eine neue Form der Chemie

05.10.2012 - Deutschland

Moleküle konstruieren und modifizieren, das ist das Ziel der Chemiker. Wärme, Licht und Elektrizität sind bekannte Energiequellen, um das zu bewerkstelligen. Seit einigen Jahren etablieren Wissenschaftler jedoch eine weitere Methode: mechanische Kräfte. Dieses neue Forschungsgebiet, die sogenannte kovalente Mechanochemie, beschreiben Professor Dominik Marx, Inhaber des Lehrstuhls für Theoretische Chemie der Ruhr-Universität, und Dr. Jordi Ribas-Arino (Universität Barcelona), in einem Übersichtsartikel in Chemical Reviews.

Bild: © J. Ribas-Arino und D. Marx

Die Energielandschaft verändern: Sind die mechanischen Kräfte (F), die auf ein Molekül einwirken, stark genug, kann sich die Topologie der Energielandschaft, auf der die chemischen Reaktionen ablaufen, verändern. Dadurch entstehen neue Reaktionswege und damit andere Reaktionsprodukte (rechts, blau), als wenn das Molekül mit Wärme behandelt worden wäre (links, magenta).

Mechanische Kräfte „verbiegen“ die Energielandschaft chemischer Reaktionen

Vor fünf Jahren gelang es Jeff Moore von der Universität Illinois (Urbana-Champaign) und Kollegen erstmals, mechanische Kräfte einzusetzen, um Moleküle in Lösung kontrolliert zu manipulieren. Aufbauend auf ihren Beiträgen zur mechanischen Manipulation von Molekül-Oberflächenkontakten entwickelten die Theoretischen Chemiker der RUB Konzepte und Rechenmethoden, um diese neuartige „kovalente Mechanochemie“ fundamental zu verstehen und am Computer zu simulieren. Die Grundidee ist, dass die externen Kräfte, die im Experiment auf Moleküle wirken, systematisch die Energielandschaft „verbiegen“, auf der chemische Reaktionen ablaufen. Die Deformation kann so stark sein, dass sich neue Reaktionswege eröffnen, die mit anderen Energiequellen wie Wärme nicht zur Verfügung stünden.

Moleküle mit Nano-Kräften manipulieren

Kräfte in der Größenordnung von „Nano-Newton“ reichen aus, um chemische Bindungen in Molekülen neu zu arrangieren. „Das sind im wahrsten Sinne des Wortes zwergenhaft winzige Kräfte“, erklärt Dominik Marx. „In unserer Erlebenswelt entspricht das ganz grob der Gravitationskraft zwischen zwei Menschen, die in einem Abstand von wenigen Metern voneinander stehen – also unmerklich klein! Aber auf der molekularen Ebene reichen diese Kräfte eben aus, um chemische Strukturen umzubauen.“ Mögliche Anwendungen für die kovalente Mechanochemie werden bereits erprobt. „Sie wurde von Rint Sijbesma von der Universiteit Eindhoven schon eingesetzt, um Katalysatoren per Ultraschall von einem Schlafzustand in ihren aktiven Zustand umzuwandeln. Aber das ist eher was für meine Experimentalkollegen“, meint Marx, „wir interessieren uns für die zugrundeliegenden Konzepte.“

Moleküle „mit Gewalt“ abreißen

Die Basis für diese Forschungsrichtung waren Computersimulationen von Experimenten mit atomarer Kraftmikroskopie (AFM), die Marx und Kollegen vor zehn Jahren publizierten. Bei diesen Simulationen werden einzelne Moleküle, die vorher fest auf einer Oberfläche verankert wurden, durch mechanische Kräfte von der Oberfläche abgerissen – quasi mit Gewalt. „Dabei stellte sich heraus, dass nicht einfach eine wohldefinierte chemische Bindung bricht“, sagt Marx. Stattdessen ordnen sich die Atome in sehr komplexer Weise genau an der Kontaktstelle von Molekül und Oberfläche neu an.

Originalveröffentlichung

J. Ribas-Arino, D. Marx (2012): Covalent Mechanochemistry: Theoretical Concepts and Computational Tools with Applications to Molecular Nanomechanics, Chemical Reviews

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