Weltrekord: Materialforschung bei mehr als 6 Mio. Atmosphären

30.10.2012 - Deutschland

Völlig neue Dimensionen für die Materialwissenschaften eröffnet eine neue, an der Universität Bayreuth entwickelte Forschungstechnik. Erstmals ist es unter normalen Raumtemperaturen im Laboratorium gelungen, extrem hohe statische Drücke von mehr als 6 Mio. Atmosphären (600 Gigapascal) zu erzeugen. Werden Materialien derartigen Drücken ausgesetzt, ändern sie ihre gewohnten chemischen und physikalischen Eigenschaften und entwickeln neuartige Strukturen. Im Forschungsjournal "Nature Communications" berichtet ein internationales Forschungsteam mit Prof. Dr. Natalia Dubrovinskaia und Prof. Dr. Leonid Dubrovinsky (beide Universität Bayreuth) über das bahnbrechende Verfahren.

Weitreichende folgen für zahlreiche Wissenschaftszweige

In enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Universität Chicago und der Universität Antwerpen konnte mit dem in Bayreuth konzipierten Verfahren ein Rekord von rund 6,4 Millionen Atmosphären (640 Gigapascal) erzielt werden. Dieser Druck ist sechs Millionen Mal so stark wie der Luftdruck auf der Erdoberfläche und eineinhalb Mal so stark wie der Druck, der im Zentrum der Erde herrscht. Bisher wurden in der Materialforschung höchstens rund 420 Gigapascal erreicht. "Wenn wir die Eigenschaften, Strukturen und Verhaltensweisen von Materialien unter derart extremen Bedingungen erforschen können, hat das weitreichende Auswirkungen auf zahlreiche Wissenschaftszweige, insbesondere die Geowissenschaften, die Kosmologie, die Chemie und die Physik kondensierter Materie", erklärt Prof. Dr. Leonid Dubrovinsky vom Bayerischen Geoinstitut, einem Forschungszentrum der Universität Bayreuth. "Wir haben beispielsweise ganz neue Chancen, um die Entstehung der Erde zu erforschen oder um herauszufinden, wie sich Eisen unter extremen Drücken verhält." Eisen ist das Material, das im Erdkern am häufigsten vorkommt.

Superharte nanostrukturierte Diamanten

Die neue Forschungstechnik ist eine – im Ergebnis revolutionäre – Weiterentwicklung von Diamantstempelzellen (diamond anvil cells), die in der Materialforschung schon seit längerem zum Einsatz kommen. Das Prinzip dieser Apparaturen: Die Probe des zu untersuchenden Materials wird zwischen den Flächen zweier Diamanten platziert. Diese Diamanten pressen die Materialprobe aus entgegensetzten Richtungen zusammen. Sind die Drücke, die von beiden Seiten auf die Probe einwirken, hoch genug, kann das Material seine inneren Strukturen grundlegend ändern.

In diesen herkömmlichen Diamantstempelzellen lassen sich mit relativ hohem technischen Aufwand Drücke bis zu ca. 250 Gigapascal generieren. Doch mit einer kleinen, aber entscheidenden Modifikation haben die Bayreuther Wissenschaftler diesen Wert um rund 150 Prozent steigern können. Sie verwenden dafür Diamant-Einkristalle mit jeweils ca. 0,25 Karat. Diese Diamanten kommen jetzt aber nicht mehr direkt mit der Materialprobe in Berührung. Vielmehr wird auf jeder der einander gegenüberliegenden Diamantflächen ein halbkugelförmiger nanokristalliner Diamant befestigt, der einen Durchmesser von 20 bis 50 Mikrometern – also von 0,02 bis 0,05 Millimetern – hat. Die winzigen runden Köpfe dieser Diamanten liegen präzise einander gegenüber. Zwischen ihnen wird nun die Materialprobe platziert.

Die Pointe dieser Konstruktion liegt darin, dass die Diamantstempelzelle einen zweistufigen Aufbau erhält. Der Druck, der von den gegenüberliegenden Einkristallen ausgeht, konzentriert sich jetzt in den winzigen „Köpfen“ der beiden halbkugelförmigen Diamanten. Weshalb können diese der enormen Drucksteigerung standhalten? Der Grund liegt in ihrem inneren Aufbau. Die Diamanten werden deshalb als nanokristallin bezeichnet, weil sie sich aus winzigen Nanopartikeln zusammensetzen. Physikalisch gesprochen: Sie besitzen eine Korngröße von weniger als 50 Nanometern. Im Vergleich mit den Diamant-Einkristallen, auf denen sie befestigt werden, verfügen sie deshalb über eine viel höhere Druckfestigkeit. Denn je geringer die Korngröße eines Diamants ist, desto robuster verhält er sich unter extremen Drücken und Temperaturen.

Auf dem Weg zu neuen Höchstdruck-Rekorden

"Nanokristalline Diamanten könnten sich für die materialwissenschaftliche Hochdruckforschung als Material der Zukunft erweisen", erklärt Prof. Dr. Natalia Dubrovinskaia, Heisenberg-Professorin für Materialphysik und Technologie bei extremen Bedingungen an der Universität Bayreuth. Diese Diamanten lassen sich aus glasigem Carbon mithilfe einer neuen Hochdruck-Synthesetechnik herstellen, und zwar auf relativ kostengünstige Weise.

Die neue Forschungstechnik wurde in Kooperation mit der Universität Chicago erprobt, genauer: mit der Advanced Photon Source des Argonne National Laboratory (ANL). Hier haben die Bayreuther Wissenschaftler gemeinsam mit U.S.-amerikanischen Kollegen Experimente auf der Basis von Synchrotronstrahlung durchgeführt, einer äußerst intensiven Lichtstrahlung, die durch eine Beamline ausgerichtet und gefiltert wird. Mit einer hochleistungsfähigen Röntgen-Beugungstechnik haben sie winzige Materialproben untersucht, die eine Dicke von weniger als 0,001 Millimetern hatten. Das ANL zählt zu den größten Forschungsinstituten des Energieministeriums der Vereinigten Staaten.

Am Ende des Beitrags zeigt sich das internationale Forschungsteam zuversichtlich, dass sich die in der Materialforschung eingesetzten Drücke mithilfe des neuen Verfahrens erheblich steigern lassen. Drücke von 1 Terapascal – also von 10 Millionen Atmosphären – sind aus der Sicht der Autoren kein unrealistisches Ziel.

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