Inline-Inspektion – fast so schnell wie Usain Bolt
Ein neues optisches Inspektionssystem überprüft Werkstücke bei 10 Metern pro Sekunde und findet in Echtzeit Defekte, die so dünn sind, wie ein Haar.
© Fraunhofer IPM
Der Drahtrohling schießt aus dem Ziehstein, der ihn in die gewünschte Form bringt. Bis zu 10 Meter pro Sekunde ist das Werkstück schnell – und kann damit fast mit Weltrekord-Sprinter Usain Bolt mithalten. Bei diesen Geschwindigkeiten war an eine vollständige Inline-Inspektion, der Prüfung des Werkstücks innerhalb der Produktionsabläufe, nicht zu denken – bisher. Forscher des Fraunhofer-Instituts für Physikalische Messtechnik IPM in Freiburg haben diese technologische Lücke jetzt geschlossen. Ihr optisches Inspektionssystem WIRE-AOI kann Defekte bei Bahnwaren in Echtzeit aufspüren. Bahnwaren sind lange Werkstücke wie Rohre, Schienen, Drähte oder Bretter, die bei hohen Fließgeschwindigkeiten gefertigt werden. Das Inspektionssystem erkennt Mikrodefekte, die mit 10 Metern pro Sekunde an ihm vorbeijagen und nicht dicker sind als ein menschliches Haar. Arbeiter sehen die Fehler dann graphisch aufbereitet auf einem Monitor und können die entsprechenden Stücke entfernen. Das System merkt sich den Ort des Defekts und speichert das dazugehörige Kamerabild in einer Datenbank ab. Hersteller von Bahnwaren können so während der Produktion Defekte erkennen, klassifizieren und dokumentieren. Zum Beispiel indem sie auf ihre eigene Fertigung angepasste Schwellwerte für Tiefe, Breite und Länge von Oberflächenfehlern festlegen. Überschreitet das Werkstück diese, schlägt die Software optisch und akustisch Alarm.
10.000 Bilder pro Sekunde
Vier Hochgeschwindigkeitskameras liefern die Bilder der Defekte. Jede einzelne ist in der Lage, 10.000 Bilder pro Sekunde zu schießen und diese in Echtzeit zu verarbeiten. »Nur wenige Modelle für die industrielle Kamerainspektion können diese Anzahl von Bildern überhaupt aufzeichnen, geschweige denn in Echtzeit auswerten«, so Dr. Daniel Carl, Gruppenleiter Inline-Messtechnik am IPM. Voraussetzung für diese Spitzenleistung sind zellulare neuronale Netze. »Das heißt, jedes Pixel ist selbst ein eigener Rechner. Um diese zu programmieren, benötigt man Spezialwissen über parallele Rechnerarchitekturen, über das wir am IPM verfügen.« Erst die entsprechende Software versetzt das System in die Lage, die von der Kamera geschossenen Bilder zu analysieren.
Eine von Carls Forscherteam entwickelte LED-Beleuchtung bringt Schärfe in die Kamerabilder. Ihr Licht strahlt in einer 5 millionstel Sekunde so hell wie 100 Sonnen und blitzt 10.000-mal pro Sekunde. »Das ist wie bei normalen Fotos: Je heller das Licht und je kürzer die Belichtungszeit, desto schärfer sind die Aufnahmen von sich bewegenden Objekten. Das Bild verschwimmt nicht, da sich in so kurzer Zeit im Prinzip nichts bewegt – auch bei Geschwindigkeiten von bis zu 10 Metern pro Sekunde«, so Carl. Das menschliche Auge nimmt diese sehr kurze Belichtungszeit kaum war. Das System ist daher trotz der extremen Helligkeit ungefährlich für die Netzhaut. Außerdem wichtig: ein robustes Gehäuse. Denn bei der Fertigung von Bahnwaren geht es ruppig zu. Zum Beispiel bei der Drahtproduktion: Die Rohlinge werden gewalzt oder durch Ziehsteine gezogen, es kann schmutzig sein oder die Anlage vibriert. Das Inspektionssystem befindet sich mit seinen sensiblen elektronischen und optischen Bauteilen mitten in der Produktionsstraße. »Die Werkstücke wandern förmlich direkt durch es hindurch«, beschreibt Carl.
Kleiner Fehler, große Wirkung
Den Anstoß zur Entwicklung des robusten, sehr schnellen und genauen Inspektionssystems gaben die Kollegen vom benachbarten Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM. »Deren Metier ist die Werkstoffprüfung, unter anderem von Drähten. Es fiel auf, dass diese viele und sehr unterschiedliche Defekte haben können, wenn sie industriell gefertigt werden, dass ein Inline-Inspektionssystem aber bisher fehlte«, sagt Carl, in dessen Gruppe der erste Prototyp entwickelt wurde. Schon kleinste Oberflächenfehler – nicht größer als einige Mikrometer – können unerwünschte Folgen haben: Entweder bereits in der Produktion, wenn die kaputten Drähte weiter verarbeitet werden und die Maschinen zum Stillstand bringen. Oder als Teil des Endprodukts, wenn sie dessen Funktion stören. Ein Beispiel sind fehlerhafte Drahtfedern in Motorventilen, die bis zum Motorschaden führen können.
Das Inspektionsverfahren ist bereits so ausgereift, dass die Wissenschaftler es inzwischen Drahtziehern anbieten. Die Technologie ist bereits seit längerem erfolgreich im Einsatz, mehrere weitere Projekte sind geplant.