Bewertung von Substanzgemischen: Status Quo und Weiterentwicklung bestehender Praktiken
Bei Autorisierungsverfahren auf europäischer Ebene lag der Fokus bislang auf Gefahren, der Exposition und dem von aktiven Substanzen ausgehendem Risiko. Informationen zu Substanzgemischen wurden nur in begrenztem Umfang verlangt. Zukünftig werden sich Expositions- und Risikobewertungen mehr auf Gemische und ihre Komponenten als auf aktive Substanzen konzentrieren. Nichtsdestotrotz gibt es bislang keine einheitlichen, harmonisierten Ansätze für die gesundheitsrelevante Risikobewertung von Substanzgemischen und die Regulierungsbehörden sind noch dabei, erste Erfahrungen mit der Thematik zu sammeln. Michael Werner (SCC) fasste in Mainz den derzeitigen Stand im Hinblick auf Toxizitätsbewertungen bei Substanzgemischen zusammen. Die Bewertung von gesundheitlichen Auswirkungen von Gemischen werde im regulatorischen Kontext größtenteils über die Eigenschaften ihrer Komponenten vorgenommen, begann der Experte. Hierbei spielt das Additivitätsprinzip eine vorherrschende Rolle. Die Untersuchung von Gemischen sei allerdings meistens auf akute Effekte beschränkt, da Gemischstudien im Hinblick auf höherstufige Endpunkte wie z.B. Mutagenität, reproduktive Toxizität oder Kanzerogenität im Allgemeinen nicht verfügbar und im Kontext der Produktautorisierung auch nicht erforderlich sind, erläuterte Werner. Darüber hinaus seien systematische Untersuchungen für höherstufige Endpunkte, um potentielle kombinierte Aktionen der Einzelkomponenten zu erforschen, aufgrund der Vielzahl an Produkten und aus Gründen des Tierschutzes (Untersuchungen der Gemischtoxizität und zur Beobachtung von Substanzinteraktionen werden vielfach an Wirbeltieren durchgeführt) nicht praktikabel, ergänzte er. Dazu komme, dass der „Leitfaden zur Anwendung der CLP-Kriterien“ Tierversuche zur Bewertung der potentiellen Toxizität von Gemischen nur dann erlaube, wenn keine verlässlichen und validen Daten der einzelnen Gemischkomponenten vorhanden seien.
Risikobewertung beim Menschen – aktueller Stand
Zur Bewertung von Substanzgemischen im Hinblick auf Gesundheitsrisiken äußerte Werner, dass bei der Produktautorisierung mittlerweile auch Komponenten in die Bewertung einfließen, die keine aktiven Substanzen sind. Allerdings sei es eine große Herausforderung, diejenigen Komponenten eines Gemisches zu identifizieren, die in die Risikobewertung berücksichtigt werden sollen. Ein praxisorientierter Ansatz sei es, sich auf aktive Substanzen sowie bedenkliche Stoffe (substances of concern), d.h. potenziell gefährliche, nicht-aktive Substanzen, zu konzentrieren, riet der Experte. Bei der Mehrheit der Gemische wisse man noch zu wenig über die Wirkungsmodi und -mechanismen ihrer Komponenten, gab er zu bedenken. Bei Risikobewertungen im Hinblick auf gesundheitliche Risiken sollte standardmäßig der Ansatz der Konzentration bzw. Dosis-Addition eingesetzt werden, berichtete Werner weiter. Dies gelte jedoch nur, wenn man nachweisen könne, dass eine Komponente auf ein anderes Gewebe bzw. Organ abziele oder einen anderen Wirkungsmechanismus besitze. Werner fasste zusammen, dass es zur Verfeinerung der kumulativen bzw. kombinierten Risikobewertungen notwendig sei, das toxikologische Datenpaket zu überarbeiten, um spezifische Referenzdosen (RfDs) für bestimmte Zielgewebe bzw. Zielorgane ableiten zu können.
Gruppierung von Pestiziden anhand von häufigen Effekten
Die EFSA verfolgt im Hinblick auf die Bewertung von Pestiziden und die Festlegung von Rückstandshöchstgehalten einen mehrstufigen Ansatz, der als ersten Schritt die Identifikation von kumulativen Bewertungsgruppen (cumulative assessment groups, CAGs) vorsieht. Zur Gruppierung der Pestizide und dem Vorgehen bei kombinierter Exposition äußerte sich auf der Konferenz Susanne Hougaard Bennekou (Umweltschutzbehörde Dänemark). Theoretisch könnten in der Nahrung von Konsumenten viele verschiedene Pestizidgemische auftreten, jedoch variiere dabei die Exposition gegenüber einzelnen Pestiziden – auch im zeitlichen Verlauf - mitunter erheblich, begann die Expertin. Aus diesem Grund sei es bei Gemischen nicht zielführend, die Gruppierung der aktiven Substanzen in CAGs aufgrund von Expositionsbewertungen vorzunehmen. Diese müsse vielmehr auf Kriterien basieren, die sich aus den intrinsischen Eigenschaften der zu betrachtenden Chemikalien, z.B. ihrem Wirkungsmechanismus oder ihren negativen Auswirkungen, ableiten ließen, betonte Hougaard Bennekou. Die Methode der EFSA zur Identifizierung und Gruppierung von Pestiziden in CAGs beziehe sich auf die Bewertung von Gefahren, so die Expertin weiter. Die Methode folge einem phänomenologischen Ansatz, der auf der Organ- oder Systemtoxizität basiert. Demnach werden auf einer niedrigen Stufe der Gefahrenbewertung alle Pestizide in einer CAG zusammengefasst, die einen spezifischen (negativen) Effekt auslösen. Bislang wurden 287 Pestizide im Hinblick auf die beschriebene Gruppierungsmethode bewertet. Die CAGs können dabei sowohl Substanzen mit gleichartigen als auch verschiedenen Wirkungsmechanismen enthalten. Eine Unterscheidung zwischen gleichen und verschiedenartigen Wirkungsmechanismen ist zwar für die Evaluation experimenteller Daten wichtig, für die Auswahl des Risikobewertungskonzepts in der Praxis der kumulativen Risikobewertung jedoch nur von begrenzter Relevanz, so die Expertin. Allerdings könne das Wissen über die Wirkungsmechanismen für präzisere Bewertungsstufen hilfreich sein, ergänzte sie.
Die EFSA empfiehlt insgesamt die Gruppierung von Pestiziden, die nachteilige Auswirkungen auf dasselbe Zielorgan bzw. Zielsystem haben. Ihre kombinierten Effekte sollen anhand des Konzepts der Dosis-Addition bewertet werden. Dies sei ein pragmatischer und konservativer Standardansatz für die Bewertung kumulativer Risiken in Zusammenhang mit der Festlegung von Rückstandshöchstgehalten oder der Risikobewertung von Substanzgemischen, erklärte die Expertin.
Die Strategie der EFSA sieht vor, bis 2016 harmonisierte Methoden für die kombinierte Exposition durch mehrere Chemikalien zu entwickeln. Am Ende ihres Vortrags ging Hougaard Bennekou auf das 21. wissenschaftliche Kolloquium der EFSA ein, das im September abgehalten wurde und sich mit der Harmonisierung von ökologischen Risikobewertungen und Risikobewertungen beim Menschen beschäftigte. Bereits heute gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen beiden Bereichen: Die toxikologischen und ökotoxikologischen Stufen seien analog, da in beiden Fällen die gleichen wissenschaftlichen Begründungen zugrundeliegen würden, erläuterte Hougaard Bennekou. Auch Datenlücken seien beiden Feldern gemeinsam. Dazu komme, dass einige Aspekte der Toxikologie und Ökotoxikologie bereits harmonisiert seien. So sei bei gleichen Wirkungsmechanismen jeweils das Prinzip der Dosis-Addition vorgesehen und auch die Standardannahmen seien auf den unteren Stufen der Bewertung ähnlich. Ein Bedarf an Harmonisierung bestehe aktuell vor allen Dingen im Hinblick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen, bei denen insbesondere die Anforderungen und Ansätze angeglichen werden sollten, unterstrich die Expertin. Darüber hinaus müssten Kriterien zum Auffüllen von Datenlücken entwickelt werden. Für die zukünftige Bewertung der kombinierten Exposition gegenüber multiplen Chemikalien ermutige die EFSA zur Entwicklung von alternativen Methoden als Ersatz für Tierversuche und zur Erweiterung des Wissens über die Determinanten des Synergismus, bemerkte Hougaard Bennekou.
Unbekannte toxische Mechanismen: Dosis-Addition stellt ausreichenden Schutz für den Menschen sicher
Auf Antrag der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucher der Europäischen Kommission (DG Sanco) haben ihre drei wissenschaftlichen Komitees im Jahr 2011 eine Stellungnahme zur Toxizität und Bewertung von Substanzgemischen entwickelt. Helmut Greim (Technische Universität München) legte die wichtigsten Punkte der Stellungnahme, die drei mögliche Szenarien der Gemischtoxikologie (gleicher oder verschiedenartiger Wirkungsmechanismus und Interferenz) beschreibt, auf der Konferenz dar. Der Experte bestätigte, dass verschiedene chemische Substanzen derart zusammenwirken können, dass ihre Toxizität für Menschen oder die Umwelt beeinflusst wird. Mit den aktuellen Bewertungsmethoden können die Effekte von Substanzgemischen sowohl für Substanzen gleicher als unterschiedlicher Wirkungsweise gut vorhergesagt werden. Grundsätzlich können Chemikalien gleicher Wirkungsweise Kombinationseffekte produzieren, die größer als die Effekte der einzelnen Komponenten sind, welche gut über das Prinzip der Dosis-/bzw. Konzentrationsaddition beschrieben werden können. Der Einsatz der Dosis-/Konzentrationsaddition schützt ebenso bei unbekannten toxischen Mechanismen ausreichend. Auf der anderen Seite gibt es keine stichhaltigen Beweise dafür, dass die Exposition gegenüber einem Gemisch aus Chemikalien mit gleichem oder verschiedenartigem Wirkungsmechanismus gesundheitlich bedenklich ist, sofern die Einzelkomponenten auf oder unter ihrem Nulleffekt-Level vorliegen. Greim räumte jedoch ein, dass es eine signifikante Begrenzung aller Komponenten-basierten Ansätze sei, dass sie nur auf solche Substanzgemische angewendet werden könnten, deren Hauptkomponenten bekannt seien.
Generell sei zu sagen, dass Interaktionen von Substanzen wie die Störung des Metabolismus oder Ausscheidungen für gewöhnlich nur bei mittleren bis hohen Dosen auftreten würden, ergänzte Greim. Bei niedriger Exposition kämen sie gar nicht vor oder seien in toxikologischer Hinsicht unbedeutend. Im Allgemeinen seien Interaktionen eher schwierig zu bewerten und bedürften stets der Einzelfallbetrachtung durch einen Experten, unterstrich er abschließend.