Chemie-Nobelpreisträger haben Erbgut-Werkstatt durchschaut
(dpa) Drei Forscher haben lebenswichtige Reparatur-Sets für Erbgutschäden enträtselt und erhalten dafür den diesjährigen Chemie-Nobelpreis. Der türkisch-amerikanische Wissenschaftler Aziz Sancar (69), der Schwede Tomas Lindahl (77) und der US-Amerikaner Paul Modrich (69) hätten damit fundamentale Erkenntnisse etwa für die Suche nach Krebsmedikamenten geliefert, gab die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften am Mittwoch in Stockholm bekannt. Die höchste Auszeichnung für Chemiker ist mit umgerechnet rund 850 000 Euro (8 Millionen Schwedischen Kronen) dotiert.
Sancar ist als erstem Türken ein wissenschaftlicher Nobelpreis zuerkannt worden. «Sie haben mich dort schon immer gefragt, wann ich denn endlich den Nobelpreis gewinnen werde, also bin ich auch sehr glücklich für mein Land», sagte Sancar den Nobelpreis-Organisatoren. Er wurde 1946 im anatolischen Savur geboren, arbeitet aber schon länger in den USA. Nach Angaben der Zeitung «Hürriyet» hat er sieben Geschwister. Seine Eltern seien Analphabeten, hätten jedoch viel Wert auf die Bildung ihrer Kinder gelegt.
Die Entdeckungen aller drei Forscher haben enorme Konsequenzen, wie die Chefin der Nobel-Jury, Sara Snogerup Linse, betont. «Das Leben, wie wir es heute kennen, ist vollständig abhängig von DNA-Reparaturmechanismen.»
Der Erbgutstrang (Desoxyribonukleinsäure/DNA) jeder Zelle unseres Körpers ist extrem dünn, aber in der Regel etwa zwei Meter lang. Bei jeder Zellteilung wird er kopiert, dabei können leicht Fehler entstehen. Das Erbgut in den Milliarden von Zellen unseres Körpers wird aber auch von außen fortwährend beschädigt - durch UV-Licht zum Beispiel, Rauchen oder krebserregende Substanzen im Essen.
«Schäden an der DNA können sehr ernsthafte Folgen haben», sagte Nobel-Juror Claes Gustafsson. Sie spielen beim Altern eine Rolle und bei Erbgutkrankheiten, vor allem aber können sie Krebs verursachen. Zum Glück für alle Lebewesen dieser Welt sind die Zellen der Zerstörung nicht hilflos ausgeliefert. «Tomas Lindahl spekulierte, dass es ein Reparatur-System geben muss, und machte sich auf die Suche. Und er fand tatsächlich eines», erklärte Gustafsson.
Lindahl, emeritierter Forscher vom Francis-Crick-Institut in London, beschrieb die grundsätzliche Funktionsweise der sogenannten Basen-Exzisions-Reparatur. Dabei schneiden Zellwerkzeuge (Enzyme) einen Baustein aus dem Erbgutstrang heraus, der ein falsches Anhängsel hat, und setzen später den korrekten ein.
Sancar, derzeit an der Universität North Carolina (USA), enträtselte die Nukleotid-Exzisions-Reparatur. Sie behebt etwa Schäden durch UV-Strahlen, Rauchen oder anderen krebserregende Substanzen. Ein Werkzeug-Set erkennt den Schaden am Erbgutstrang, schneidet ein längeres Teil um den Fehler herum aus und ersetzt es.
Modrich, der an der Duke Universität in Durham (USA) forscht, schließlich fand heraus, wie Fehler korrigiert werden, die bei der Kopie des Erbmaterials entstanden sind. Bei der sogenannten Fehlpaarungs-Reparatur (Mismatch Repair/MMR) wird der falsche Baustein herausgeschnitten und ein korrekter eingesetzt. Er wies auch nach, dass die Inaktivierung des Reparatursystems zu der häufigsten Form von vererbtem Darmkrebs führt. Bei vielen Krebsarten funktioniert zumindest einer dieser drei Mechanismen nicht oder nur unzureichend.
Sancar ist nach Orhan Pamuk (Literaturnobelpreis 2006) überhaupt erst der zweite türkische Staatsbürger, der einen Nobelpreis erhält. Als die Nachricht aus Stockholm kam, habe er noch geschlafen. «Meine Ehefrau hat den Anruf angenommen und mich aufgeweckt. Ich hatte das nicht erwartet, also war ich sehr überrascht», sagte er. «Ich werde mein Bestes geben, mein Leben normal weiterzuführen - aber es wird wohl ein paar Empfänge geben, schätze ich.» Mithat Sancar, ein Großcousin des Preisträgers und Abgeordneter der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP, sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Ich wusste, dass er eines Tages den Nobelpreis erhalten wird.»
Den Schweden Lindahl hat die Nachricht von der Auszeichnung überrascht. «Ich wusste, dass ich über die Jahre für den Preis in Betracht gezogen worden bin, aber das sind hundert andere genauso.»
Modrich, der als Kind in der weiten Landschaft des US-Staates New Mexico Interesse an der Natur entwickelte, änderte dies nach dem Rat seines Vaters: «Du solltest etwas über dieses DNA-Zeug lernen.» Der Natur ist er weiter verbunden: Von seinem Nobelpreis erfuhr er in einer einsamen Waldhütte. «Ab 06.30 Uhr trafen E-Mails bei mir ein», sagte er den Nobelpreis-Organisatoren. Diese spürten ihn erst Stunden später in der Einsamkeit von New Hampshire auf. Was den Trubel um ihn an diesem Tag angehe, habe er sich wohl «zur richtigen Zeit an den richtigen Ort» zurückgezogen, meinte er.
Die feierliche Überreichung der Auszeichnungen erfolgt traditionsgemäß am 10. Dezember, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel. 2014 erhielt unter anderem der deutsche Forscher Stefan Hell die Auszeichnung für die Erfindung superauflösender Mikroskope.