Ein tiefer Einblick in Grenzflächen

19.09.2016 - Deutschland

Grenzflächen zwischen verschiedenen Materialien und deren physikalische Eigenschaften sind für moderne Technik von zentraler Bedeutung. Ein internationales Physiker-Team hat jetzt ein Verfahren entwickelt, das einen extrem genauen Blick auf diese Grenzflächen und deren Modellierung ermöglicht.

Als der deutsche Physiker Herbert Kroemer im Jahr 2000 den Nobelpreis erhielt, prägte er in seiner Nobelvorlesung den Ausspruch „The Interface is the Device“ ("die Grenzfläche ist das Bauelement"). Kroemer bezog sich auf das Feld der Halbleiterfilme, auf welchen alle modernen elektronischen Geräte basieren.

Der Ausspruch ist heute aktueller denn je, am Beginn eines Zeitalters neuer, leistungsfähiger Bauelemente, die auf komplexeren und vielseitigeren topologischen und korrelierten Materialien basieren. Solche Materialien bilden den Forschungsschwerpunkt eines Großteils der Fakultät für Physik und Astronomie an der Universität Würzburg: Zur Zeit arbeiten 16 Gruppen auf dem Gebiet; die Entdeckung, Entwicklung und Erforschung dieser Materialien ist ebenfalls Hauptziel eines Sonderforschungsbereichs, der 2015 an den Start gegangen ist und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit rund zehn Millionen Euro ausgestattet wurde.

Um wichtige Ladungseigenschaften von korrelierten Oxidgrenzflächen mit atomarer Auflösung zu bestimmen, haben Würzburger Physiker gemeinsam mit Kollegen aus Deutschland, Kanada, den USA und Korea in den vergangenen Jahren eine neue Methode entwickelt. Das Team um Physik-Professor Vladimir Hinkov beschreibt diese experimentelle Methode.

„Herkömmliche elektronische Chips basieren auf Netzwerken aus sogenannten p-n-Übergängen - Grenzflächen zwischen Halbleitern, welche positive beziehungsweise negative Ladungen tragen“, beschreibt Vladimir Hinkov den Hintergrund dieser Forschung. Solche Netzwerke hätten jedoch mehrere Nachteile: Erstens seien die p-n-Übergänge dick, häufig von der Größenordnung von Hunderten von atomaren Lagen. Zweitens erfordere der Betrieb des Netzwerks die Bewegung von Elektronen, was wegen des elektrischen Widerstands viel Energie kostet. Drittens seien Halbleiter von Natur aus nicht magnetisch und ihre Elektronenkonfiguration sei sehr einfach: „Das limitiert dramatisch die Möglichkeiten, funktionelle Grenzflächen zu bilden und magnetische Anwendungen zu realisieren“, so der Physiker.

Vielfältige Eigenschaften erfordern anspruchsvolle Methoden

Übergangsmetalloxide hingegen weisen vielfältige Eigenschaften auf: Manche sind ferromagnetisch, andere antiferromagnetisch, und wiederum andere erweisen sich als Hochtemperatursupraleiter mit sehr ungewöhnlichen Eigenschaften. „An den Grenzflächen zwischen solchen Materialien beobachtet man eine Vielzahl von Phänomenen, welche für neuartige Anwendungen wie verschiedene Sensoren, verlustfreie Computerspeicher und extrem schnelle Prozessoren vielversprechende Möglichkeiten eröffnen“, sagt Hinkov. Im Gegenzug seien deutlich anspruchsvollere Methoden nötig, um diese Materialien zu untersuchen. Dies liege zum einen an der Vielzahl der physikalischen Phänomene und zum anderen an den viel kürzeren Längenskalen, oft nur wenige atomare Abstände, über die sich die Eigenschaften an den Grenzflächen ändern.

Verantwortlich für viele Eigenschaften dieser Materialien ist das Verhalten der Elektronen an der Grenzfläche: Neigen diese dazu, sich anzuhäufen? Welche Orbitale besetzen sie, das heißt: Wie ordnen sich die Elektronenwolken um die Atome an? Orientieren sich die winzigen magnetischen Momente der Elektronen, die so genannten Spins, in besonderer Weise relativ zueinander, so dass eine magnetische Ordnung entsteht? Auf diese und weitere Fragen suchen Physiker weltweit nach Antworten.

Messung in atomarer Größenordnung

Antworten liefern Methoden und eine Analyse-Software, die Hinkov und seine Mitarbeiter entwickelt haben. Sie basiert auf der so genannten „Resonanten Röntgenreflektometrie“, einer Messtechnik, die Röntgenlicht in einem Synchrotron nutzt, und das mit der nahezu atomaren Auflösung von unter einem Nanometer. Die Physiker haben ihre Methoden auf dünnen Filmen von Lanthan-Kobalt-Oxid angewendet, einem Material mit interessanten magnetischen Eigenschaften.

Dabei haben sie sich jedoch für die jetzt veröffentlichte Arbeit auf einen anderen Aspekt konzentriert: „Bevor wir uns auf die vielfältigen magnetischen Phänomene dieses Materials stürzen können, müssen wir ein fundamentales, sehr weit verbreitetes Programm lösen", sagt Professor Hinkov. So wie viele andere Materialien auch, wie z.B. gewöhnliches Kochsalz oder viele Halbleiter, besteht Lanthan-Kobalt-Oxid aus geladenen Teilchen. Diese sogenannten Ionen bilden eine Abfolge aus jeweils positiv und negativ geladenen Atomlagen, die zu einem 15 Nanometer dünnen Film gestapelt sind. „Man kann zeigen, dass enorme elektrostatische Felder zwischen den Lagen entstehen, was ein Problem darstellt, da die Felder Energie kosten“, erklärt Hinkov.

„Die Natur ist sparsam und vermeidet diese Energiekosten: Sie bringt jeweils positive und negative Ladungen zu den entgegengesetzten Filmgrenzflächen, ähnlich wie bei einem Plattenkondensator. Dadurch entsteht ein neues Feld, welches dem ursprünglichen entgegensetzt ist und dieses auslöscht“, erklärt der Physiker.

Wellige Grenzflächen bereiten Probleme

Die Anhäufung von reiner elektrischer Ladung an den Filmgrenzflächen nennt man „elektronische Rekonstruktion“. Aus Sicht der Physiker handelt es sich dabei um eine sehr elegante Lösung, da sie die Grenzflächen eben hält. Für Materialien, in welchen elektronische Rekonstruktion nicht möglich ist, wird die kompensierende Ladung durch recht große Ionen geliefert, was wellige Grenzflächen zur Folge hat. „Wellige Grenzflächen sind offensichtlich für die Funktion von elektronischen Bauteilen von Nachteil, insbesondere wenn sich die Materialeigenschaften, wie in den Übergangsmetalloxiden, an den Grenzflächen auf einer atomaren Skala ändern“, so Hinkov.

Dass eine elektronische Rekonstruktion an Oxidgrenzflächen realisiert werden kann, haben die Würzburger Physiker und ihre Kollegen mit der von ihnen entwickelten Methode jetzt gezeigt. Darüber hinaus beschreiben sie eine Methode, die zur Untersuchung der mikroskopischen Eigenschaften von Grenzflächen jenseits von elektronischer Rekonstruktion geeignet ist: Schließlich seien die Anordnung von Atomen, die elektronische Besetzung der Atomorbitale und die Spinorientierung von ebenso fundamentaler Bedeutung.

Ein Erfolg enger Zusammenarbeit

Das besondere „Würzburger Umfeld“ und die breit angelegte, internationale Zusammenarbeit, hat diesen Erfolg möglich gemacht. „Ein solches wissenschaftliches Unterfangen ist nur möglich, wenn Experten aus den verschiedensten Feldern eng zusammenarbeiten“, sagt Professor Hinkov. Nötig seien dafür exzellente Proben, hochpräzise Röntgenstreuinstrumente, die an modernen Synchrotron-Strahlungsquellen betrieben werden, eine spezielle Software und nicht zuletzt „Kollegen, die Tag und Nacht an den Instrumenten verbringen und ihre Messungen durchführen.“

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