Der Entropie auf der Spur

Forscher untersuchen Mobilität einzelner Moleküle

21.02.2017 - Schweiz

Mit Hilfe eines Rastertunnelmikroskops haben Empa-Forscher Einblicke in eine eher abstrakte physikalische Grösse erhalten und diese erstmals anhand eines einzelnen Moleküls gemessen – die Entropie.

Empa

Bilder von einzelnen Dibutylsulfid-Molekülen, fotografiert von einem Rastertunnelmikroskops (STM) bei Temperaturen von 5.41 bis 16.03 Kelvin (K). Während die Temperaturen steigen, variieren die Moleküle ihre Form viel schneller, was zu den verschiedenen Konfigurationen der Moleküle in den Bildern führt.

Chemische Reaktionen, besonders in biologischen Systemen, führen oft dazu, dass Makromoleküle ihre Form – ihre «Konfiguration» – verändern, z.B. durch Drehung oder translatorische Verschiebung. Um herauszufinden, was die Mobilität der Moleküle im Detail erhöht bzw. hemmt, nutzen Chemiker und Physiker vereinfachte Modellsysteme, beispielsweise an einer Oberfläche haftende Moleküle. Diese lassen sich bei Temperaturen von nur wenigen Grad über dem absoluten Nullpunkt (-273°C) mit Hilfe eines Rastertunnelmikroskops (STM für «scanning tunneling microscope») erforschen; STM ermöglichen die Untersuchung zahlreicher physikalischer Eigenschaften von Oberflächen auf atomarer Ebene.

Ein beliebtes Molekül für diese Art von Untersuchungen ist Dibutylsulfid (DBS), ein länglicher Kohlenwasserstoff mit einem zentralen Schwefelatom, durch das das Molekül an einer Goldoberfläche absorbiert werden, d.h. anhaften kann. Je nach Temperatur rotieren seine beiden «Arme» mehr oder weniger leicht um die zentrale Schwefel-Achse. Die Bewegungsfreiheit eines Moleküls auf einer Oberfläche wird in der Regel anhand von zwei physikalischen Grössen beschrieben: die Energiebarriere, die es überwinden muss, um die Bewegung zu vollziehen – bei chemischen Reaktionen wird diese Barriere Aktivierungsenergie genannt –, und die so genannte Versuchsrate, darunter versteht man die Anzahl Versuche, die das Molekül unternimmt, um die Bewegung zu initiieren. Je höher die Temperatur, desto stärker rotieren die beiden DBS-Arme (da mit steigenden Temperaturen die Wahrscheinlichkeit zunimmt, die Energiebarriere zu überwinden).

Pikometergenaue Untersuchung eines einzelnen Moleküls – zwei Wochen lang

Solche rotierenden Moleküle weckten das Interesse von Empa-Physiker Hans Josef Hug. Ihre Fluktuationsraten lassen sich nämlich mithilfe der Temperatur steuern. Diese Eigenschaft macht sie zu einem idealen Modellsystem, um die kontaktlose Reibung und die dabei auftretenden Energieverluste auf atomarer Ebene zu untersuchen. Leider lässt sich die kontaktlose molekulare Reibung mit handelsüblichen Instrumenten nicht so einfach messen. Hug und sein Team haben daher ein komplexes Analysegerät auf der Grundlage eines Niedertemperatur-STM in Kombination mit einem Raster-Kraft-Mikroskop (SFM für «scanning force microscope») entwickelt, das bei Temperaturen zwischen 4,5 Kelvin und Raumtemperatur im Ultrahochvakuum pikometergenau betrieben werden kann. Das Projekt spornte wiederum Pennsylvania State University (PSU)-Forscher Eric Hudson an, ein Sabbatical in Hugs Gruppe zu verbringen.

Wie in der experimentellen Forschung üblich begann das Empa-PSU-Team zunächst, die STM-Arbeiten anderer Wissenschaftler an diesem Molekül nachzuvollziehen. Doktorand Jeffrey Gehrig und Postdoktorand Marcos Penedo unterzogen das DBS-Molekül einem gründlichen Test: Zwei Wochen lang wurden seine Rotationsraten auf einem 50x50 Pikometer kleinen quadratischen Raster bei acht verschiedenen Temperaturen zwischen fünf und 15 Kelvin erfasst. Als das Team die gemessenen Sprungraten evaluierte, um die Energiebarrieren für die DBS-Rotationen in Abhängigkeit von der Position der STM-Spitze darzustellen, ergab sich für das DBS-Molekül keine einheitliche «Energielandschaft»; vielmehr zeigten sich darin Täler und Gebirgskämme. Anders gesagt: Je nachdem, wo genau die STM-Spitze positioniert wurde, rotierten die DBS-Arme mal mehr, mal weniger häufig – trotz konstanter Temperatur, wie das Team in der jüngsten Ausgabe von «Nature Communications» berichtet. «Das war vollkommen unerwartet», betont Hug. «Denn es bedeutet, dass die Spitze, die vom Molekül noch relativ weit entfernt war und es überhaupt nicht berührte, auf irgendeine Weise seine Mobilität beeinflusste.»

Wenn die Natur ihre Geheimnisse offenbart

Und nicht nur das: Als Gehrig und Penedo die Versuchsraten des Moleküls plotteten, erhielten sie eine Grafik, die mit der Landschaft der Energiebarrieren beinahe identisch war. «Da habe ich mir gedacht: Moment mal, was versucht uns die Natur hier zu sagen?» erinnert sich Hug. Denn die Versuchsrate korreliert mit dem Entropieunterschied zwischen dem Grundzustand des Moleküls, d.h. bevor es versucht zu rotieren, und dessen angeregtem Zustand auf der Spitze der Energiebarriere (bzw. Aktivierungsenergie). Hugs Team konnte also zeigen, dass im Fall des DBS-Moleküls die Entropieunterschiede proportional zu den Energiebarrieren sind. Hug: «Das bedeutet, dass Energie und Entropie in diesem System auf fundamentale Weise verknüpft sind. Dies nachzuweisen, war allerdings ausserordentlich schwierig.» Eric Hudson ergänzt: «Entropie wird häufig als Mass für Unordnung oder Zufälligkeit angesehen. In diesem Fall wird sie aber durch die Anzahl der Formen bestimmt, die das Molekül potenziell annehmen könnte, sowie durch die Anzahl der Möglichkeiten, dass das Molekül die energetischen Voraussetzungen erfüllen kann, um seine Konfiguration zu verändern.»

Die Ergebnisse des Empa-PSU-Teams bedeuten, dass die Entropie für die Dynamik des Moleküls sogar bei sehr tiefen Temperaturen eine entscheidende Rolle spielt, bei denen die Freiheit des Moleküls (und damit seine Konfigurationsentropie) deutlich reduziert ist und man deshalb davon ausging, dass die Entropie keine grosse Rolle spiele. «In der Thermodynamik ist die Entropie zwar gut erforscht. Gleichwohl ist sie schwerer zu fassen als andere physikalische Grössen», gesteht Hug. «Vielleicht liegt das daran, dass sie weniger eine ‚Eigenschaft‘ als vielmehr ein Informationsmass ist.» Ein weiterer Grund mag sein, dass wir Entropie im Allgemeinen eher mit Chaos, also der «dunklen Seite» der Entropie, assoziieren, sei es im Kinderzimmer oder auf dem Schreibtisch.

Entropie – die mysteriöse «Kraft» hinter spontanen Prozessen

Man stelle sich vor, man gebe einen Tropfen dunkelblaue Tinte in ein Glas Wasser. Mit der Zeit vermischt sich die Tinte mit dem Wasser, bis es einheitlich gefärbt ist, so als ob eine «unsichtbare Kraft» am Werk gewesen sei. Könnte sich dieser Prozess jemals von selbst umkehren, so dass die Tinte wieder in einem dunkelblauen Tropfen konzentriert ist? Natürlich nicht. Oder wie ein Physiker sagen würde: «Nur mit verschwindend geringer Wahrscheinlichkeit.» Solche alltäglichen Erfahrungen mit dem, was sich spontan in isolierten Systemen ereignet und was nicht, lassen sich mit dem Konzept der Entropie erfassen, das wiederum mit Wahrscheinlichkeiten zu tun hat. Isolierte Systeme, wie beispielsweise die in das Wasserglas gegebene Tinte, verändern sich demnach im Zeitverlauf, um die wahrscheinlichste aller möglichen Konfigurationen einzunehmen, nämlich die mit der höchsten Entropie. Dabei überrascht es vermutlich kaum, dass das auch die mit der grössten Unordnung ist.

Bei der vom Empa-PSU-Team untersuchten Rotation des DBS-Moleküls war es faszinierend zu beobachten, dass mit der Erhöhung der Energiebarriere für die Rotation des Moleküls – als Hindernis für seine Beweglichkeit – sich gleichzeitig die Anzahl der Möglichkeiten erhöhte, dieses Hindernis zu überwinden. Es kam somit zu einer Zunahme der Entropie. «Diese Erkenntnis impliziert natürlich auch», wie Empa-Physiker Miguel A. Marioni zusammenfasst, «dass unser intern entwickeltes STM-SFM das perfekte Instrument ist, um die Entropie eines einzelnen Moleküls bis ins kleinste Detail unter die Lupe zu nehmen.»

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