Kohlenstoff zeigt Quanteneffekte

Es ist, als würde ein Tiger seinen Käfig verlassen, obwohl der Zaun zu hoch ist, um darüber zu springen

10.07.2017 - Deutschland

Chemiker der Ruhr-Universität Bochum haben einen neuen Beleg dafür gefunden, dass sich Kohlenstoffatome nicht nur wie Teilchen, sondern auch wie Wellen verhalten können. Diese quantenmechanische Eigenschaft ist für leichte Teilchen wie Elektronen oder Wasserstoffatome hinreichend bekannt. Nur selten haben Forscher hingegen den Welle-Teilchen-Dualismus für schwere Atome wie Kohlenstoff beobachtet. Das Team um Prof. Dr. Wolfram Sander und Tim Schleif vom Lehrstuhl für Organische Chemie II berichtet gemeinsam mit Prof. Dr. Weston Thatcher Borden, University of North Texas, in der Zeitschrift Angewandte Chemie.

© RUB, Marquard

Sie waren maßgeblich daran beteiligt, das ungewöhnliche Verhalten des Kohlenstoffs nachzuweisen: Tim Schleif (links) und Joel Mieres Perez (rechts)

„Unser Ergebnis ist eines von wenigen Beispielen dafür, dass Kohlenstoffatome Quanteneffekte zeigen können“, sagt Sander. Konkret beobachteten die Forscher, dass Kohlenstoffatome tunneln können. Sie überwinden also eine energetische Barriere, obwohl sie eigentlich nicht genug Energie besitzen, um das zu tun.

Selten beobachtet für schwere Teilchen

Wolfram Sander veranschaulicht das Paradoxon: „Es ist, als würde ein Tiger seinen Käfig verlassen, ohne über den Zaun zu springen, der viel zu hoch für ihn ist. Er kommt aber trotzdem raus.“ Das kann nur gelingen, wenn er sich wie eine Welle verhält, aber nicht, wenn er sich wie ein Teilchen verhält. Die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Objekt in der Lage ist zu tunneln, hängt von seiner Masse ab. Daher kann das Phänomen zum Beispiel für die leichten Elektronen deutlich einfacher beobachtet werden als für das relativ schwere Kohlenstoffatom.

Die Forscher untersuchten die Tunnelreaktion anhand der Cope-Umlagerung, einer seit fast 80 Jahren bekannten chemischen Reaktion. Das Ausgangsmolekül für die Reaktion, eine Kohlenwasserstoffverbindung, ist dabei identisch mit dem Produktmolekül. Vor und nach der Reaktion liegt also die gleiche chemische Verbindung vor. Allerdings verknüpfen sich die Kohlenstoffatome in dem Prozess neu; die Bindungen in dem Molekül verlagern sich also.

In ihrem Experiment markierten die Bochumer ein Kohlenstoffatom des Ausgangsmoleküls: Sie ersetzten eines der daran gebundenen Wasserstoffatome durch das Wasserstoffisotop Deuterium, eine schwerere Variante des Wasserstoffs. Moleküle vor und nach der Cope-Umlagerung unterschieden sich in der Verteilung des Deuteriums. Aufgrund dieser unterschiedlichen Verteilungen besaßen die beiden Molekülformen leicht unterschiedliche Energien.

Reaktion dürfte eigentlich nicht stattfinden

Bei Raumtemperatur wirkt sich dieser Unterschied nicht aus; aufgrund der in der Umgebung reichlich vorhandenen Wärmeenergie liegen beide Formen gleich häufig vor. Bei sehr tiefen Temperaturen unter zehn Kelvin wird allerdings eine Molekülform aufgrund des Energieunterschieds stark bevorzugt. Beim Übergang von Raumtemperatur zu extrem tiefen Temperaturen müsste sich das Gleichgewicht von einer gleichhäufigen Verteilung der beiden Formen zu einer ungleichen Verteilung verschieben.

Diese Verschiebung kann aber unmöglich auf klassischem Weg stattfinden – denn für die Umlagerung von einer in die andere Form müsste eine Energiebarriere überwunden werden, wofür weder das Molekül selbst die Energie besitzt noch die kalte Umgebung diese liefern kann. Obwohl sich das neue Gleichgewicht auf klassischem Wege nicht einstellen dürfte, konnten die Forscher es trotzdem im Experiment nachweisen. Ihr Fazit: Die Cope-Umlagerung bei extrem tiefen Temperaturen lässt sich nur durch einen Tunneleffekt erklären. Damit lieferten sie experimentelle Belege für eine Voraussage, die Weston Borden vor mehr als fünf Jahren aufgrund theoretischer Studien getätigt hatte.

Lösungsmittel beeinflussen Fähigkeit zu tunneln

An der Ruhr-Universität forscht Wolfram Sander im Exzellenzcluster Ruhr Explores Solvation und beschäftigt sich dort mit den Wechselwirkungen von Lösungsmitteln und gelösten Molekülen. „Es ist bekannt, dass Lösungsmittel die Fähigkeit zu tunneln beeinflussen“, sagt der Chemiker. „Aber es ist bislang völlig unverstanden, wie sie das tun.“

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