Deutsche Chemieindustrie: Mit neuen Technologien aus der Krise

A.T. Kearney Studie: Trotz Zeichen einer konjunkturellen Erholung wird nachhaltiger Aufschwung erst ab 2012 erwartet

02.12.2009 - Deutschland

Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Chemieindustrie besonders früh und hart getroffen: Für das Gesamtjahr 2009 wird es zu Umsatzbußen in Höhe von 20 Prozent kommen. Gleichzeitig sind in der Branche rund 5.000 Stellen weggefallen. Vor allem durch eine breite Einführung der Kurzarbeit konnten noch weiterreichende Stellenstreichungen vermieden werden. Vielerorts laufen derartige Kurzfristmaßnahmen nun allerdings aus, 2010 stehen im äußersten Fall 35.000 Stellen auf dem Spiel. Für Unternehmen kommt es jetzt darauf an, die strukturellen Veränderungen der Branche zu erkennen und sie schnell und aktiv im eigenen Sinn zu nutzen. Zukünftiges Wachstumspotenzial liegt darüber hinaus in den Bereichen Biotechnologie, Nanotechnologie, Umwelttechnologie und Polytronik. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie „Nachhaltige Restrukturierung des Wirtschaftsstandortes Deutschland - Chemie“ der Topmanagement-Beratung A.T. Kearney. Um das Potenzial der Wachstumskerne vollumfänglich auszuschöpfen, ist auch Unterstützung vonseiten der Regierung gefragt: Vor allem eine noch konsequentere Förderung von Zukunftstechnologien sowie die Vermeidung von Überregulierung können erheblich dazu beitragen, Unternehmen den Weg zu langfristigem Wachstum zu ebnen.

Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise hat in der Chemieindustrie zu signifikanten Einbußen geführt: Im ersten Halbjahr 2009 lagen die Auftragseingänge um mehr als 20 Prozent unter dem Wert des Vorjahres. Die Chemieproduktion selbst ist um 16 Prozent zurückgegangen, die Exporte um ein Viertel. Besonders negativ zu Buche geschlagen haben die Einbrüche in der Automobilbranche und der Bauwirtschaft.

„Für das Gesamtjahr 2009 erwarten wir für die deutsche Chemieindustrie Umsatzeinbußen in Höhe von 20 Prozent. Gleichzeitig werden die Gewinne um etwa 17 Prozent unter dem Vorjahreswert liegen“, erläutert Thomas Rings, Partner bei A.T. Kearney und Leiter der weltweiten Process Industries Practice.

Auch der Arbeitsmarkt spiegelt den Abwärtstrend wider: 2009 wurden in der Branche rund 5.000 Stellen gestrichen, durch eine breite Einführung von Kurzarbeit und den Abbau von Überstunden konnten noch größere Einschnitte verhindert werden. Allerdings laufen vielerorts die Kurzarbeit-Vereinbarungen aus. Sollte sich die Nachfrage nicht merklich erholen, sind 2010 im äußersten Fall 35.000 Arbeitsplätze in Gefahr.

„Inzwischen mehren sich zwar die Anzeichen für eine konjunkturelle Erholung, allerdings halten wir es für wenig wahrscheinlich, dass dies bereits der Beginn eines neuen langfristigen Aufschwungs ist“, erklärt Tobias Fehre, Manager bei A.T. Kearney und Co-Autor der Studie. Im Zuge der Krise hatten viele Unternehmen ihre Lagerbestände vollständig abgebaut und bauen diese nun sukzessive wieder auf. Der aktuellen Nachfrage steht also nicht im selben Maße ein originärer Bedarf gegenüber. „Sehr wahrscheinlich ist, dass die Nachfrage zwar 2010 weiter anzieht, sie aber nicht vor 2012 wieder zum Vor-Krisen-Niveau zurückfindet“, so Fehre weiter.

Die deutsche Chemieindustrie hat sehr schnell und effizient auf die Auftragseinbrüche reagiert. „Angesichts der sich abzeichnenden leichten Entspannung laufen einige Unternehmen Gefahr, erste Erfolge ihrer Restrukturierungsaktivitäten wieder zu verspielen“, warnt Rings. „Dabei kommt es gerade jetzt darauf an, nicht nur die strukturellen Veränderungen der Branche für sich zu nutzen, sondern sich auch ganz systematisch auf die wesentlichen Wachstumsfelder zu konzentrieren“, erklärt Rings.

Wachstumskerne weiße Biotechnologie, Nanotechnologie, Umwelttechnologie und Polytronik

Neue Wachstumspotenziale für die Branche liegen etwa in der weißen Biotechnologie, d.h. in der industriellen Produktion von organischen Grund- und Feinchemikalien mithilfe von Mikroorganismen. Weiße Biotechnologie erlaubt nicht nur langfristig das Erschließen nachwachsender Rohstoffe als primäre erdölunabhängige Basis der Produktion, sondern trägt auch zu Umwelt- und ressourcenschonenderen Produktionsprozessen bei. „Das Potenzial ist enorm: Wir rechnen damit, dass mittelfristig über ein Fünftel aller Umsätze in der Industrie mit weißer Biotechnologie in Zusammenhang stehen werden“, erläutert Fehre.

Auch die Nanotechnologie, in der Kleinststrukturen vom Einzelatom bis zu einer Strukturgröße von 100 Nanometern zum Einsatz kommen, ist ein zukunftsträchtiges Geschäftsfeld und wird eine große Hebelwirkung auf annähernd alle Industriezweige haben. Dabei gehört die Kosmetikbranche genauso zu den Anwendungsbereichen wie die Bauwirtschaft oder der Bereich Optik. „Durch steigende Innovationsanforderungen wird die Nanotechnologie ganz erheblich zu einer Zunahme der Marktdynamiken beitragen und Produktweiterentwicklungen beschleunigen“, sagt Fehre.

Weitere Wachstumspotenziale bietet darüber hinaus der Bereich der Polytronik, dem Teilbereich der Elektronik, in dem statt Silizium-basierter Bauteile polymere Bauteile zum Einsatz kommen. Das Anwendungsgebiet ist breit: Die Bauteile finden sich in Produkten der Unterhaltungselektronik genauso wieder wie in Verpackungen und Produkten der Medizintechnik. Darüber hinaus zeichnet sich die Polytronik durch ihre günstigen Herstellkosten aus.

Von großer Relevanz wird in Zukunft schließlich das gesamte Spektrum der Umwelttechnologien sein, die sogenannten ‚Clean Technologies‘. Diese kommen etwa im Bereich der Energieeffizienz und mobilen Energiespeicherung zum Einsatz, aber auch auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien und im Recycling. Die ‚Clean Technologies‘ werden Chemieunternehmen völlig neue Geschäftsfelder eröffnen. Vor allem knapper werdende Ressourcen und zunehmende Umweltprobleme werden ihnen zunehmenden Rückenwind verleihen. Bereits jetzt bietet dieses vergleichsweise neue technologische Querschnittsgebiet Wachstumsraten im hohen zweistelligen Bereich.

„Diese neuen Wachstumskerne bergen immenses Potenzial, dem krisenbedingten Umsatz- und Arbeitsplatzschwund entgegenzuwirken“, prognostiziert Rings.

Allein wird die Industrie die Herausforderungen allerdings nicht schultern können. Auch die Regierung ist gefordert und sollte durch eine investitionsfreundliche Politik dafür sorgen, dass Unternehmen die nötigen Planungssicherheiten bekommen, um in die Zukunft zu investieren. Zudem ist eine konsequente und gezielte Förderung von Zukunftstechnologien gefragt, wie etwa zur Elektrifizierung des Autoantriebs. Um diese voranzutreiben, sollte die Regierung auch finanzielle Anreize zur Verfügung stellen. Darüber hinaus ist ein Umdenken hinsichtlich des Einsatzes von Biotechnologie gefragt, will man den Anschluss an die Weltspitze nicht verlieren. Nicht zuletzt darf der Handlungsspielraum von Unternehmen nicht unnötig durch Überregulierung eingeschränkt werden.

Agil auf strukturelle Trends reagieren

Die Untersuchung hat zudem gezeigt, dass in der Branche grundlegende strukturelle Veränderungen im Gang sind, auf die sich Unternehmen einstellen müssen. So ist etwa seit geraumer Zeit eine zunehmende Verlagerung der Kundenindustrien nach Asien zu beobachten sowie ein steigender Wettbewerb von Firmen aus den Schwellenländern. Auch die Notwendigkeit, innovativ zu sein, um sich von Niedrigpreisanbietern zu differenzieren, steht schon länger auf der Tagesordnung von deutschen Chemieunternehmen.

Zwar erfahren einige dieser Trends durch die Krise eine Verzögerung, dafür kommen aber wiederum andere hinzu, wie etwa der Trend zu immer globaleren chemischen Rohstoffmärkten. „Für deutsche Chemieunternehmen wird es immer wichtiger, dass sie globale Sourcing-Aktivitäten aufbauen, um wichtige Liefermärkte und Lieferanten zu identifizieren“, so Rings. Darüber hinaus verändert die Krise die Bühne für M&A-Aktivitäten. „Wir rechnen mit einem deutlichen Anstieg der M&A-Aktivitäten, sobald sich die wirtschaftliche Lage und die Kreditklemme wieder entspannt haben. Mit Hilfe von staatlicher Unterstützung werden vor allem Unternehmen aus China und dem Nahen Osten auf den Plan treten und hiesigen strategischen Investoren Konkurrenz machen. Vor allem, weil sie Zugang zu westlichen Märkten, Kundenindustrien und F&E-Expertise bieten, stellen westeuropäische Firmen attraktive Investitionsziele dar. Aber auch strategische Allianzen und Joint Ventures werden zunehmen“, führt Rings weiter aus.

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