Die Grenzen der Haftung

03.04.2018 - Deutschland

Immer dann, wenn Oberflächen übereinander gleiten, entsteht Reibung. Da dies einen zusätzlichen Kraft- und Energieaufwand erfordert, ist die sogenannte Gleitreibung ein eher lästiger aber meist unumgänglicher Aspekt von Bewegungsvorgängen. Um aber einen ruhenden Gegenstand erst in Bewegung zu versetzen, muss zunächst die statische beziehungsweise Haftreibung überwunden werden. Forscher an der Universität Konstanz haben nun in einer Kollaboration mit italienischen Fachkollegen gezeigt, wie sich die Haftreibung zwischen zwei Oberflächen vollständig unterdrücken lässt. Damit lassen sich Objekte mit einer winzigen Kraft in Bewegung setzen. Gerade bei mikromechanischen Bauteilen, wo häufig nur kleine Kräfte im Spiel sind, kann eine verschwindende Haftreibung zu einem deutlich verbesserten Wirkungsgrad führen.

Um einen Holzklotz über einen Tisch zu bewegen, muss man daran ziehen. Diesen scheinbar simplen Zusammenhang hat bereits Leonardo da Vinci vor über 500 Jahren systematisch untersucht und dabei die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Gleitreibung entdeckt. Da mit der Gleitreibung üblicherweise die Erzeugung von Wärme verknüpft ist, muss ständig an dem Klotz gezogen werden, um die Reibungsverluste wettzumachen. Um aber überhaupt erst eine Bewegung in Gang zu setzen, muss zunächst die Haftreibung überwunden werden. Diese ist typischerweise größer als die Gleitreibung und entsteht dadurch, dass die atomare Struktur der beiden Kontaktoberflächen gewissermaßen ineinander einrastet. Erst wenn die angelegte Kraft hinreichend groß ist, können sich die Oberflächen aus ihrer Verzahnung befreien und gegeneinander verschieben.

Die Konstanzer Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Clemens Bechinger konnte nun in Kollaboration mit italienischen Physikern aus Universitäten in Mailand und Triest mit Experimenten und numerischen Simulationen eine Vorhersage bestätigen, die der Physiker Serge Aubry in den 1980er Jahren gemacht hat: Wenn der Gitterabstand der Teilchen in den beiden Oberflächen leicht unterschiedlich ist, sollte die Reibung zwischen den Oberflächen vollständig verschwinden. Dies gilt auch dann, wenn die beiden Oberflächen aufeinander gedrückt werden. Praktisch würde dies bedeuten, dass eine beliebig kleine Kraft ausreichen würde, einen tonnenschweren Klotz auf einer Unterlage in Bewegung zu versetzen.

Dieser Effekt lässt sich besonders gut an idealen Kontakten beobachten, wo die beiden Oberflächen plan aufeinander liegen. Genau solche Oberflächen hat Clemens Bechinger mit seinen Mitarbeitern in einem Modellsystem realisiert: Sein Team hat aus Laserlicht und Mikrometer großen Glaskügelchen, sogenannten Kolloiden, ein zweidimensionales Modell für zwei aufeinander reibende Oberflächen geschaffen. Da sich die Kügelchen elektrisch abstoßen, ordnen sie sich in einer periodisch geordneten ebenen Schicht an. Diese kolloidale Monolage bildet die eine Oberfläche. Die andere Oberfläche erzeugten die Forscher unter der Schicht der Kügelchen mit drei intensiven Laserstrahlen. Durch deren Überlagerung bildet sich ein Lichtkristall, eine Art optischer Eierkarton mit Mulden und Hügeln. „Im Vergleich mit einer realen Oberfläche haben diese optischen Oberflächen den Vorteil, dass diese völlig transparent ist und sich daher die Vorgänge zwischen den beiden Flächen direkt beobachten lassen“, sagt Thorsten Brazda, Doktorand von Clemens Bechinger, der die Experimente im Rahmen seiner Doktorarbeit durchgeführt hat.

Während Aubry seine Vorhersage aber nur für einen eindimensionalen Kontakt und am absoluten thermischen Nullpunkt machte, gelang der Forschungskollaboration der Beweis, dass auch ein zweidimensional ausgedehntes System bei Raumtemperaturen reibungsfrei in Bewegung versetzt werden kann. „Mit dem Experiment konnten wir die künstliche eindimensionale Situation auf eine durchaus realistische Situation übertragen und zeigen, dass die Idee von Aubry auch in einem zweidimensionalen System und bei endlichen Temperaturen gültig bleibt“, kommentiert Clemens Bechinger.

Durch die direkte Beobachtung der Teilchenbewegung lässt sich auch das Ausbleiben der Haftreibung der kolloidale Monolage auf dem Lichtkristall verstehen: Die Forscher konnten beobachten, dass sich der Kristall leicht gegenüber dem Lichtgitter verdreht. Dadurch vermeiden es die Teilchen, in die Mulden des Substrats einzurasten, aus denen sie nur schwer wieder herauskommen würden. Stattdessen ordnen sich einige nahe der Bergkuppen an. Wird eine äußere Kraft angelegt, so müssen sich diese Teilchen daher nicht erst aus den Potentialmulden befreien, sondern können sich sofort bewegen, sobald eine minimale Kraft auf sie einwirkt. Damit verschwindet die Haftreibung.

Die experimentellen Ergebnisse, die in ausgezeichneter Übereinstimmung mit den numerischen Simulationen der italienischen Forschungskollegen sind, zeigen, dass sich die Haftreibung nicht nur ausschalten, sondern auch gezielt wieder anschalten lässt, wenn der Anpressdruck zwischen den beiden Oberflächen erhöht wird. Dies ist insofern wichtig, da Haftreibung – im Gegensatz zur Gleitreibung – häufig durchaus wünschenswert ist. Sie ermöglicht uns beispielsweise, einen Gegenstand sicher zu greifen, oder sorgt für die Traktion von Rädern auf Oberflächen. Mit der nun gezeigten Möglichkeit, die Haftreibung zu variieren, ergeben sich neue Möglichkeiten, Gegenstände leicht über Oberflächen zu verschieben und diese anschließend wieder fest zu verankern. Dies wäre zum Beispiel für die Funktion mikro- und nanomechanischer Getriebe oder Kupplungen von großem Vorteil, da hier typischerweise nur sehr kleine Kräfte im Spiel sind.

Thorsten Brazda

Gleitet eine Monolage eines Kolloidkristalls (blaue Kugeln) über ein Lichtgitter (orange), so kann die Reibung vollständig verschwinden. Dies wird dadurch erreicht, dass die Teilchen bevorzugt die Mulden des Lichtgitters vermeiden und sich stattdessen entlang der Bergrücken bewegen.

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