Neutrinos auf der genauesten Waage der Welt
Karlsruher Tritium Neutrino Experiment KATRIN geht in Messphase
Michael Zacher
Die Neutrinowaage KATRIN nimmt den Messbetrieb auf. Nach Hauptspektrometer und Detektoreinheit ist mit der Tritiumquelle auch die letzte der Großkomponenten des Experimentes installiert. Erstmals werden nun durch den Beta-Zerfall von hochreinem Tritiumgas die Elektronen und Neutrinos erzeugt, deren Energieverhältnis von KATRIN bestimmt werden soll. Ein großes Team an erfahrenen Physikern, Ingenieuren und Technikern am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) sorgt dabei für den reibungsfreien Betrieb der zahlreichen Hochtechnologie-Bausteine bei KATRIN und am Tritiumlabor Karlsruhe (TLK).
Bundesforschungsministerin Anja Karliczek sagt: „KATRIN ist ein Experiment der Superlative und wird die Erkenntnisse über unser Universum um ein entscheidendes Puzzleteil ergänzen. Ich gratuliere dem KIT und der Forschungskollaboration zum erfolgreichen Aufbau dieses anspruchsvollen Experiments. Gemeinsam mit Ihnen freue ich mich auf den nun anstehenden Start der Messphase und die ersten Forschungsergebnisse. Ein derartig wichtiges Experiment auf deutschem Boden stärkt den Forschungsstandort Deutschland.“ Das Bundesforschungsministerium ist mit etwa 75 Prozent größter Geldgeber und investierte rund 50 Millionen Euro in den Bau von KATRIN.
„Große Forschungsgeräte treiben die technologische Entwicklung voran und bilden am KIT, der Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft, ein inspirierendes Arbeitsumfeld für Forschende und Studierende“, resümiert Professor Holger Hanselka, Präsident des Karlsruher Instituts für Technologie. „Mit KATRIN hat eine internationale Forschergemeinde ihre Heimat am KIT gefunden und ich bin gespannt, welche faszinierenden Einblicke in das Universum uns dieses kreative und interdisziplinäre Team eröffnet.“
„Im Zoo der uns bekannten Elementarteilchen sind Neutrinos die vielbeachteten Superstars, die in ihrer Bedeutung für unser modernes Weltbild Quarks und Co. weit in den Schatten stellen“, erklärt der wissenschaftliche Co-Sprecher der internationalen KATRIN-Kollaboration, Professor Guido Drexlin vom KIT. Auch für Kosmologen spielen die beim Urknall in großer Anzahl erzeugten Neutrinos als „Geisterteilchen des Universums“ eine Schlüsselrolle beim Verständnis von großräumigen Strukturen im Weltall. Wie groß diese Rolle genau ist, hängt von der Größe ihrer Masse ab, die bisher noch unbestimmt ist.
„Erst seit knapp zwei Jahrzehnten wissen wir, dass Neutrinos – entgegen früheren Vorhersagen der Teilchenphysiker – überhaupt eine Ruhemasse besitzen“, fährt Guido Drexlin fort. Diesen Beweis erbrachten die Professoren Arthur B. McDonald (Queens University, Kanada) und Takaaki Kajita (Tokyo University, Japan), die erstmals Umwandlungsprozesse von massiven Neutrinos zweifelsfrei nachweisen konnten. Dafür wurden sie 2015 mit dem Nobelpreis für Physik geehrt. Bis heute ist die von Null verschiedene Neutrinomasse der einzige im Labor bestätigte Hinweis auf neue Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysiker.
„KATRIN wird auf den bahnbrechenden Untersuchungen von McDonald und Kajita aufbauen und dabei andere physikalischen Prinzipien und experimentelle Methoden benutzen, um die Masse des Neutrinos modellunabhängig zu bestimmen“, erläutert Guido Drexlin. Die beiden mit KATRIN eng verbundenen Nobelpreisträger werden der Einweihung beiwohnen, wie viele andere internationale Fachkollegen auch. „KATRIN ist ein internationales Flaggschiffprojekt, auf dessen Resultate wir sehr gespannt sind“, äußerten sie sich im Vorfeld der Einweihung.
Bei den später 100 Milliarden Beta-Zerfallsprozessen von molekularem Tritium pro Sekunde in der Tritiumquelle von KATRIN entstehen jeweils ein Elektron und ein Neutrino, die sich die Zerfallsenergie von 18.600 Elektronenvolt teilen. In extrem seltenen Fällen geht das Neutrino dabei fast „leer aus“, und das Elektron erhält praktisch die gesamte Energie. Durch Einsteins berühmte Formel E=mc² wissen wir, dass das beim Zerfall nicht beobachtbare Neutrino mindestens seine Ruhemasse wegtragen muss, sodass die entsprechende Energie dem Elektron fehlt. Genau diesem winzigen Fehlbetrag von höchstens 0,2 Elektronenvolt (das entspricht der unvorstellbar geringen Masse von 3,6x10-37 Kilogramm) sind die KATRIN-Forscher mit ihrer Neutrinowaage auf der Spur. Sie soll messen, welche maximale Energie die Elektronen aus dem Beta-Zerfall von Tritium erreichen. Gegenüber früheren Neutrinomassen-Experimenten verfügt KATRIN über eine um einen Faktor 100 intensivere Quelle und stark verbesserte spektroskopische Eigenschaften. „KATRIN ist ein Wunder der Technik“, schwärmt Professor Ernst Otten von der Universität Mainz, der frühere Messungen an einem Vorläuferexperiment in Mainz geleitet hat und der einer der Gründerväter von KATRIN ist.
Bei den Inbetriebnahme-Messungen konnte das KATRIN-Team viele technische Neuerungen erfolgreich erproben und dabei diverse „Weltrekorde“ aufstellen. „Eine besondere Erfolgsgeschichte ist das ultrapräzise Hochspannungssystem und das 700 Quadratmeter große Drahtelektrodensystem für das große Spektrometer. Ohne derartige Entwicklungen würde KATRIN nicht die gewünschte Empfindlichkeit auf die Neutrinomasse erreichen können“, erläutert Professor Christian Weinheimer von der Universität Münster, ebenso Guido Drexlin, wissenschaftlicher Co-Sprecher von KATRIN, der mit seiner Gruppe durch die Entwicklung und den Bau wichtiger Komponenten an wesentlichen Stellen zum Erfolg des Projekts beigetragen hat. Zahlreiche der für KATRIN entwickelten Technologien finden bereits jetzt in anderen Experimenten und sogar in anderen Disziplinen Anwendung. Das internationale Team konnte vor kurzem einen letzten wichtigen Erfolg feiern: Die sehr anspruchsvollen Anforderungen an die Stabilitätsparameter der Quelle konnten um mehr als eine Größenordnung unterboten werden.
Die Tritiumquelle besteht aus einem 16 Meter langen hochkomplexen Kryostaten, der wie alle anderen Komponenten der Quelle im TLK aufgebaut ist. Das TLK mit seiner weltweit einzigartigen Tritium-Infrastruktur gab den Ausschlag, dass KATRIN am KIT steht. Die Elektronen aus der Quelle werden über starke Magnete zum Herzstück von KATRIN geleitet, dem riesigen elektrostatischen Spektrometer. Dieses wurde 2006 in einer aufsehenerregenden Reise vom Hersteller in Oberbayern auf dem Schiffsweg über die Donau, das Mittelmeer und dann rheinaufwärts zum KIT gebracht. Das Spektrometer ist seit mehreren Jahren der weltgrößte Ultrahochvakuum-Behälter: In seinem Inneren ist der Druck so niedrig wie an der Mondoberfläche. Ein System von aktiven und passiven Pumpsystemen sorgt dafür, dass kein Tritiummolekül von der Quelle ins Ultrahochvakuum des Spektrometers gelangt.
Nach vielen Jahren der Planung und des Aufbaus sowie der Inbetriebnahme der Großkomponenten des 70 m langen Experimentaufbaus freuen sich die knapp 200 Mitglieder der internationalen KATRIN Kollaboration aus 20 Institutionen in sieben Ländern, dass die Messungen nun im Juni 2018 starten. „Ich bin besonders stolz auf unser enthusiastisches Team mit seinem unglaublichen Einsatz und seiner breiten Expertise“, betont Drexlin, der als Projektleiter auch den Aufbau von KATRIN am KIT koordinierte. „Mein besonderer Dank gilt dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Helmholtz-Gemeinschaft, die den Aufbau von KATRIN über viele Jahre unterstützt und finanziert haben.“
„Die einzigartigen Eigenschaften von Quelle und Spektrometer sind von großer Wichtigkeit für die komplexe Datenauswertung. Gerade die ersten Wochen der Datennahme werden besonders spannend werden, da wir dann bereits in experimentelles Neuland vorstoßen können“, stellt Dr. Kathrin Valerius fest, die am KIT eine Helmholtz-Hochschul-Nachwuchsgruppe leitet und zusammen mit den Professorinnen Susanne Mertens (Max-Planck-Institut für Physik und Technische Universität München) und Diana Parno (Carnegie Mellon, USA) die Arbeiten des internationalen Analyseteams koordiniert. Dieses umfasst zahlreiche Postdoktoranten, Doktoranden sowie viele Master- und Bachelorstudierende.
Mit der offiziellen KATRIN-Einweihung am 11. Juni ging für das internationale KATRIN-Team ein langgehegter Traum in Erfüllung. „Nur mit Entschlossenheit, Mut und einer gehörigen Portion Enthusiasmus lässt sich ein Pionierprojekt wie KATRIN realisieren“, fasst Prof. Hamish Robertson (University of Washington, Seattle, USA), der langjährige US-Sprecher von KATRIN, den langen Weg von den ersten Ideen in 2001 bis heute zusammen. Als Erfinder der gasförmigen molekularen Tritiumquelle und Koordinator der wichtigen Aktivitäten der US-Kollegen bei KATRIN kann er auf viele Meilensteine in der Neutrinoforschung zurückblicken.
„Der Weg war voller Herausforderungen. Jetzt stehen wir am Start, und freuen uns auf spektakuläre und überraschende KATRIN-Resultate, in guter Tradition der Neutrinophysik der letzten Jahrzehnte“, schauen Guido Drexlin und Christian Weinheimer und das gesamte KATRIN-Team erwartungsvoll nach vorne bis ins nächste Jahrzehnt.