Der Magnet-Effekt ohne Magnet
Überraschung: Der Hall-Effekt, der normalerweise nur bei Magnetfeldern auftritt, ließ sich auch anders erzeugen – und zwar extrem stark
Technische Universität Wien
Eine Zusatzspannung im rechten Winkel zum Strom
Wenn elektrischer Strom durch einen Metallstreifen fließt, dann bewegen sich Elektronen von einer Seite zur anderen. Wenn man nun neben diesem Streifen einen Magneten positioniert, dann wirkt eine Kraft auf die Elektronen – die sogenannte Lorentzkraft. Die Bahn der Elektronen durch den Metallstreifen ist daher nicht mehr gerade, sie wird ein bisschen verbogen. Daher befinden sich nun auf der einen Seite des Metallbandes mehr Elektronen als auf der anderen. Es entsteht eine elektrische Spannungsdifferenz zwischen den beiden Seiten des Metallbandes – und zwar im rechten Winkel zu der Richtung, in die der Strom eigentlich fließt. Das ist der klassische Hall-Effekt, wie man ihn seit vielen Jahren kennt.
„Die Stärke des Hall-Effekts zu messen, ist eine der Methoden, wie wir in unserem Labor Materialien charakterisieren“, sagt Prof. Silke Bühler-Paschen vom Institut für Festkörperphysik der TU Wien. „Man kann daraus einiges über das Verhalten der Elektronen im Festkörper lernen.“ Als Sami Dzsaber, der in Bühler-Paschens Forschungsgruppe an seiner Dissertation arbeitete, das Material Ce3Bi4Pd3 untersuchte, nahm er seine Aufgabe ganz besonders genau und führte auch noch eine Probemessung ohne Magnetfeld durch. „Eigentlich ist das eine ungewöhnliche Idee – aber in diesem Fall war das entscheidend“, sagt Silke Bühler-Paschen.
Bei der Messung stellte sich nämlich heraus, dass das Material auch ganz ohne äußeres Magnetfeld einen Hall-Effekt aufweist – und zwar einen riesengroßen. Einen Hall-Effekt dieser Stärke könnte man in anderen Materialien nur mit gewaltigen Spulen und weltrekordverdächtigen Magnetfeldern erzeugen. „Somit mussten wir eine weitere Frage beantworten“, sagt Silke Bühler Paschen. „Wenn ein Hall-Effekt ohne äußeres Magnetfeld auftritt, handelt es sich dann vielleicht um extrem starke lokale Magnetfelder, die auf winziger Größenskala im Inneren des Materials auftreten, aber außerhalb nicht mehr zu spüren sind?“
Man führte daher Untersuchungen am Paul Scherrer Institut in der Schweiz durch: Mit Hilfe von Myonen – Elementarteilchen, die sich besonders gut zur Untersuchung magnetischer Phänomene eigenen – wurde das Material dort genauer untersucht. Doch dabei zeigte sich: Auch auf mikroskopischer Skala ist kein Magnetfeld nachzuweisen. „Wenn es kein Magnetfeld gibt, dann tritt auch keine Lorentzkraft auf, die auf die Elektronen im Material wirken kann – aber trotzdem wurde ein Hall-Effekt gemessen. Das ist wirklich bemerkenswert“, sagt Silke Bühler-Paschen.
Auf die Symmetrie kommt es an
Die Erklärung für dieses merkwürdige Phänomen liegt im komplizierten Zusammenspiel der Elektronen. „Die Atome dieses Materials sind nach ganz bestimmten Symmetrien angeordnet, und diese Symmetrien legen die sogenannte Dispersionsrelation fest – das ist der Zusammenhang zwischen der Energie der Elektronen und ihrem Impuls. Die Dispersionsrelation sagt uns, wie schnell sich ein Elektron bewegen kann, wenn es eine bestimmte Energie hat“, erklärt Bühler-Paschen. „Wichtig ist auch, dass man die Elektronen hier nicht einzeln betrachten kann – zwischen ihnen herrschen starke quantenmechanische Wechselwirkungen.“
Aus diesem komplexen Zusammenspiel ergeben sich Phänomene, die mathematisch aussehen als würden sich magnetische Monopole in dem Material befinden – also einsame Nord- und Südpole, die es in dieser Form in der Natur nicht gibt. „Auf die Bewegung der Elektronen wirkt das aber tatsächlich so wie ein sehr stakes Magnetfeld“, sagt Bühler-Paschen.
Der Effekt war zwar theoretisch bereits vorhergesagt worden, nachweisen konnte ihn bisher allerdings noch niemand. Den Durchbruch brachte die Untersuchung einer neuen Materialklasse: „Unser Material mit der chemischen Zusammensetzung Ce3Bi4Pd3 zeichnet sich durch eine besonders starke Wechselwirkung zwischen den Elektronen aus“, erklärt Bühler-Paschen. „Man spricht hier vom sogenannten Kondoeffekt. Er führt dazu, dass diese fiktiven magnetischen Monopole genau die passende Energie haben, um die Leitungselektronen im Material extrem stark zu beeinflussen. So ist der Effekt mehr als tausendmal so groß wie theoretisch vorhergesagt.“
Der neue magnetfeldlose Riesen-Hall-Effekt birgt einiges an Potential für Quantentechnologien der nächsten Generation. Hier sind zum Beispiel nichtreziproke Elemente, die richtungsabhängige Streuung ganz ohne äußeres Magnetfeld erzeugen, von Bedeutung; sie könnten mit diesem Effekt realisiert werden. „Auch das extrem nichtlineare Verhalten des Materials ist von großem Interesse“, meint Silke Bühler-Paschen. „Dass sich aus komplexen Vielteilchen-Phänomenen in Festkörpern ungeahnte Anwendungsmöglichkeiten ergeben, macht dieses Forschungsgebiet besonders spannend.“