Atome im Glas springen wie kosmische Teilchen
Röntgenexperiment zeigt neuartigen Weg zu maßgeschneiderten Eigenschaften von Gläsern: „Die Geschichte verspricht, spannend zu werden“
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Glas ist ein ungewöhnlicher Zustand der Materie: Obwohl es wie ein Festkörper aussieht, fehlt ihm die typische innere Kristallstruktur, die sich in den meisten anderen Festkörpern findet. Dennoch bleiben die Atome an ihrem Platz, sie diffundieren nicht durchs Material wie in einer Flüssigkeit. Gläser lassen sich mit vielen unterschiedlichen Eigenschaften versehen. Dazu werden sie wiederholt erhitzt, bis sie sich eher wie eine Flüssigkeit verhalten, und anschließend mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten wieder abgekühlt. So entsteht beispielsweise superstarke Gläser oder solche, die nur in stumpfe Splitter zerbrechen, hitzebeständige Gläser und zahlreiche andere.
Die Forscher haben nun einen Weg gefunden, um mit Röntgenstrahlung einen ähnlichen Effekt zu erzielen wie beim klassischen sogenannten Tempern von Glas. Dazu setzten sie dünne Scheiben aus Siliziumdioxid (SiO2), dem „Rohmaterial“ von Glas, der Röntgenstrahlung von PETRA III aus und verfolgten die Bewegungen der Atome innerhalb der Probe. Wie die Untersuchung zeigt, unterscheidet sich die Wirkung der Röntgenstrahlung fundamental vom Erhitzen und Schmelzen des Glases: Statt gleichmäßig schneller umeinander herumzufließen, machten einige der Atome in der bestrahlten Probe vergleichsweise große Sprünge innerhalb des Materials. Dabei änderte sich die Temperatur des Glases durch die Bestrahlung nicht.
„Beim herkömmlichen Tempern von Glas ist es so, als wäre das Atom im Glas ein Tourist an einem Ort, der herumgeht und sich die Sehenswürdigkeiten ansieht. Durch die Röntgenbestrahlung hingegen steigt der Tourist – unser Atom – in ein Flugzeug und fliegt in eine ganz andere Stadt und sieht sich dort die Sehenswürdigkeiten erneut an“, beschreibt Forschungsleiter Giulio Monaco von der Universität Padua den Unterschied.
„Dieser Effekt kann uns mehr über die Bewegung der Atome in Gläsern verraten“, sagt Ko-Autor Michael Sprung, Leiter der Experimentierstation P10 bei DESY, wo die Experimente stattgefunden haben. „Dabei haben wir festgestellt, dass sich die beobachtete und die durch die Röntgenstrahlung erwartete Dynamik deutlich unterscheiden.“
Die Sprünge der Atome im Glas werden verursacht, indem die Röntgenstrahlung die Bindungen zwischen Silizium und Sauerstoff im Glas aufbrechen, wie Francesco Dallari erläutert, einer der Hauptautoren der Untersuchung. Die Elektronen der Atome werden durch die Röntgenstrahlung angeregt, und die Atome stoßen sich daraufhin mit großer Kraft innerhalb der unstrukturierten Form des Glases ab – ein Phänomen, das buchstäblich nicht von dieser Welt ist. Derselbe Effekt, die sogenannte stochastische atomare Beschleunigung, lässt sich bei manchen kosmischen Teilchenbeschleunigern beobachten, beispielsweise bei Schwarzen Löchern – allerdings auf einer im Vergleich zu den Atomen im Glas ganz anderen Energie- und Größenskala.
Der beobachtete Effekt könnte viele neue und bisher unbekannte Eigenschaften von Gläsern ermöglichen. „Unsere Forschung zeigt, dass sich die Eigenschaften von Gläsern auch mit Strahlung statt durch Erhitzen beeinflussen lassen“, sagt DESY-Forscher Dallari, der heute in Monacos Gruppe in Padua arbeitet. „Je nach Anwendung müssen die Gläser schnell gekühlt oder abgeschreckt werden. Die Verwendung von Röntgenstrahlung wirkt wie ein superschnelles Abschrecken.“ Welche Eigenschaften dadurch genau entstehen können, muss noch erforscht werden. Im Experiment wurde das Glas zum Beispiel spröder, aber Änderungen in der Glaszusammensetzung sowie in der Energie und Dauer der Röntgenbestrahlung können völlig andere Auswirkungen haben.
„Unsere Beobachtung kann zum Beispiel auch Einfluss auf die Beurteilung der Ermüdung bestrahlter Materialien haben“, sagt Sprung. Dies spielt in einer Vielzahl von Bereichen eine Rolle, etwa bei medizinischen Geräten oder in Forschungsanlagen.
Monacos Team wird die Untersuchung dieses Phänomens mit einer Förderung des Europäischen Forschungsrats ERC fortsetzen und dazu auch weitere Messungen bei DESY machen. „Dies ist nur das erste Kapitel“, betont Monaco. „Die Geschichte verspricht, spannend zu werden.“
An der Untersuchung waren Forscherinnen und Forscher der Universitäten Padua, Trient und Amsterdam sowie von DESY beteiligt.