Chemiebranche weiterhin unter Druck: Wirtschaftspolitische Neuausrichtung gefordert
Frühjahrspressegespräch der Chemieverbände Hessen
Die chemische Industrie in Hessen steht weiterhin unter enormem Druck. Sinkende Umsätze, stagnierende Produktion und steigende Standortkosten belasten die Unternehmen massiv. Die pharmazeutische Industrie befürchtet mögliche Einschnitte durch drohende Handelskonflikte. Der Arbeitgeberverband HessenChemie und der VCI Hessen haben im Rahmen des Frühjahrspressegesprächs Bilanz gezogen und einen Ausblick gegeben. Von der künftigen Bundesregierung fordern sie eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik und umfassende Reformen.
Wirtschaftlicher Einbruch in der chemisch-pharmazeutischen Industrie hält an
„Die Alarmzeichen stehen weiterhin auf Rot. Die chemisch-pharmazeutische Industrie verharrt in der Rezession“, warnt Oliver Coenenberg (Sanofi-Aventis Deutschland GmbH), Vorstandsvorsitzender von HessenChemie. Die Produktion stagnierte 2024, während die Verkaufspreise um 0,7 Prozent und der Gesamtumsatz um 0,9 Prozent zurückgingen. „Die Konsequenzen der Talfahrt sind gravierend: Investitionen werden zurückgefahren, Produktionskapazitäten gedrosselt und Arbeitsplätze abgebaut“, so Coenenberg.
Dr. Joachim Kreysing (Infraserv GmbH & Co. Höchst KG), Vorsitzender des VCI Hessen, ergänzt: „Wir stehen vor entscheidenden Herausforderungen für die Chemie- und Pharmaindustrie in Hessen, aber auch darüber hinaus. Es geht um nichts weniger, als die Zukunftsfähigkeit unseres Industriestandorts und damit um Wohlstand, Innovation und Lebensqualität in Deutschland.“
Chemiegeschäft erheblich geschwächt
Besonders schwierig ist die Lage für die energieintensiven Chemiebetriebe. Hier zeigt sich, dass die hiesigen Kostenstrukturen nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Gegenüber dem Vorjahr ist die Produktion in der Chemiebranche nochmals um gut 2 Prozent zurückgegangen. Seit 2021 ist damit ein Produktionseinbruch von 28 Prozent zu verzeichnen.
„Der Umsatz ist in der klassischen Chemie um 11,0 Prozent auf 13,2 Milliarden Euro gesunken – in zwei Jahren war das ein Absturz um insgesamt 30,5 Prozent“, beklagt Coenenberg.
Stabilität im Pharmabereich
Während die klassische Chemie tief in der Krise steckt, zeigt sich die pharmazeutische Industrie bisher stabiler. Der Pharmaumsatz in Hessen belief sich 2024 auf gut 18,1 Milliarden Euro. Dies ist eine Steigerung um 8,0 Prozent. Die Verkaufspreise stiegen um 2,4 Prozent, nur noch halb so stark wie im Vorjahr, und der Produktionszuwachs lag mit 1,5 Prozent auf vergleichsweise niedrigem Niveau.
Mögliche Handelskonflikte könnten auch für die Pharmabranche empfindliche Einschnitte bedeuten. Hessen exportiert pharmazeutische Erzeugnisse im Wert von rund drei Milliarden Euro in die USA.
Ergebnisse der Verbandsumfrage – Erholung frühestens 2026
Die Verbandsumfrage aus dem Februar 2025 verdeutlicht die anhaltend schwierige Lage in der chemisch-pharmazeutischen Industrie: 90 Prozent der Unternehmen betrachten den Fachkräftemangel als größtes Risiko, gefolgt von ungünstigen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen (89 Prozent) und steigenden Arbeitskosten (81 Prozent). Auch die hohen Energie- und Rohstoffpreise (73 Prozent) und der gestiegene Krankenstand (61 Prozent) setzen die Industrie massiv unter Druck.
Das Geschäft wächst im Gegensatz zu den Kosten nicht mit. Für das laufende Jahr sind bei 81 Prozent der befragten Unternehmen umfangreiche Kostensenkungsprogramme vorgesehen. Mit einer spürbaren Erholung des Geschäfts rechnen 91 Prozent der befragten Unternehmen frühestens für das Jahr 2026.
Trotz der angespannten Lage hat die Branche wieder ein starkes Zeichen für die Zukunft gesetzt: 1.708 Ausbildungsplätze wurden 2024 geschaffen – ein neuer Rekord. 90 Prozent der Absolventen wurden übernommen. Die Ausbildungsbetriebe reagieren damit auf das Ausscheiden der Babyboomer in den kommenden Jahren.
Forderungen an die nächste Bundesregierung
Die Chemieverbände Hessen fordern von der kommenden Bundesregierung strukturelle Reformen und eine klare wirtschaftspolitische Neuausrichtung. „Die geplanten Investitionen in Sicherheit und Infrastruktur sind angesichts der Herausforderungen wichtige Schritte. Es braucht jetzt aber mehr als schuldenfinanzierte Programme. Ohne eine Sozialreform wird der wirtschaftliche Aufschwung nicht gelingen. Erst wenn die Sozialabgaben auf maximal 40 Prozent begrenzt werden, gewinnt der Standort für Unternehmen und Investitionen wieder an Attraktivität. Im Sondierungspapier spielt das bislang keine Rolle. So lässt sich keine Wirtschaftswende einleiten“ sagt Coenenberg.
Und Kreysing betont: „Die innovative Chemie- und Pharmaindustrie ist Hessens umsatzstärkster Wirtschaftszweig und größter industrieller Arbeitgeber. Es sollte uns allen gemeinsam daran gelegen sein, jetzt die Weichen richtig zu stellen.“
Die Chemieverbände fordern die kommende Bundesregierung zu einer entschiedenen Kursänderung in der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf:
1. Das Strompreisdesign und die Netzentgelte müssen so ausgestaltet werden, dass für die Industrie eine verlässliche Energieversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen ermöglicht wird – hier ist Tempo gefragt.
2. Umweltrechtliche Regulierungen müssen Innovationen ermöglichen und fördern. Planungs- und Genehmigungsverfahren erfordern eine Beschleunigung
3. Die Sozialversicherung benötigt dringend Strukturreformen, um den Herausforderungen des demografischen Wandels gerecht zu werden. Stetig steigende Sozialabgaben treiben die Arbeitskosten in die Höhe und beeinträchtigen die Wettbewerbsfähigkeit erheblich. Daher muss die Sozialabgabenlast dauerhaft auf 40 Prozent begrenzt werden.
4. Die Arbeitszeit benötigt mehr Flexibilität. Die Umstellung auf eine wöchentliche Betrachtung würde Betrieben und Beschäftigten mehr Gestaltungsspielraum geben, ohne den Arbeitsschutz zu gefährden. Konsequenterweise müssen auch die Ruhezeiten flexibler gestaltet werden können.
5. Um den Arbeits- und Fachkräftebedarf zu sichern, sind gezielte Maßnahmen erforderlich. Die Verfahren zur Fachkräftezuwanderung müssen digitalisiert und beschleunigt werden. Gleichzeitig muss der Ausbau von Kitaplätzen vorangetrieben werden, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erleichtern.