Die Elektronenwolken-Vorhersage für chemische Reaktionen

20.05.2014 - Deutschland

Mit Hilfe eines Röntgenlasers hat ein internationales Forscherteam, darunter Wissenschaftler von European XFEL, DESY und dem Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie, genauer in die Elektronenwolken eines Moleküls geschaut als jemals zuvor. Dabei ist es gelungen, die Änderung von Zwischenzuständen von Elektronen, kleinen geladenen Teilchen im Orbit des Moleküls, exakt festzuhalten – ähnlich wie zu verschiedenen Zeiten aufgenommene Bilder zu einem Film zusammengefügt werden können. Die Wissenschaftler konnten auch sehr kurzlebige Zustände, für die andere Verfahren zu ungenau sind, messerscharf abbilden. Solche Zustände existieren nur für Zeiträume, die von einigen billiardstel Sekunden (Femtosekunden, fs) bis zu einigen billionstel (Pikosekunden, ps) Sekunden andauern, entscheiden aber über den Ablauf und das Ergebnis chemischer Reaktionen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit stellen die Forscher in der Zeitschrift Nature vor.

W. Gawelda, European XFEL

Ein Eisenkomplex wie er in dieser Studie untersucht wurde.

„Die Zwischenzustände kann man sich wie Zweige in einem Baum vorstellen“, erklärt Christian Bressler, leitender Wissenschaftler bei European XFEL und an der Publikation beteiligter Autor. „Wir kennen das Aussehen der Zweige von unten schon recht gut, aber wir können nicht ihre genaue dreidimensionale Form erkennen.“ Ein vom Baum fallender Apfel würde von Ast zu Ast springen und schließlich auf den Boden fallen. Ähnlich kann man sich den Ablauf chemischer Reaktionen über Zwischenzustände zum Endprodukt vorstellen. Dabei würde dann die 3D-Form der Äste über den Weg und das Ergebnis der Reaktion entscheiden. 

„Wir wissen zwar heute schon, wo der Apfel auf den Boden trifft, aber wir sehen nicht, warum oder wie er hierher gelangt. Genau dieser Weg über die Zweige entscheidet aber über den Aufschlagsort, und damit über die Effizienz der Reaktion. Es ist unser langfristiges Ziel, Reaktionen zu optimieren, zum Beispiel in dem wir maßgeschneiderte Lichtpulse nutzen und damit den Weg zu den gewünschten Endprodukten beeinflussen, um die Reaktionen so effizient wie möglich zu machen.“

Die Hauptrolle in der Molekül-Episode spielt ein Eisen-Komplex, der ähnlich wie zentrale Bestandteile von Hämoglobin oder Chlorophyll aus einem Metallatom und einem als Ligand bezeichneten organischen Rest besteht. Aufgenommen wurde die Szene am der derzeit stärksten Röntgenlaser der Welt, dem LCLS am Beschleunigerzentrum SLAC in Kalifornien. Ein „normaler“ Laser, der im sichtbaren Bereich des Lichts arbeitet, versetzte das Molekül in einen energiereicheren, angeregten Zustand – und initiierte damit den ersten Schritt einer lichtinduzierten chemischen Reaktion, wie zum Beispiel bei der Photosynthese, oder bei dem biochemischen Prozess in der Netzhaut, der uns das Sehen überhaupt erst ermöglicht.

Dabei nehmen die Elektronen des zentralen Metallatoms in dem Molekül verschiedene, von den Liganden beeinflusste Zustände ein. Diese entsprechen den Zweigen im Baum und werden von Wissenschaftlern durch Schalen, Orbitale und Spin bestimmt und mit sogenannten Quantenzahlen beschrieben. Bisher kannte man nur die Quantenzustände der Ausgangsstoffe und Reaktionsprodukte sehr gut, wusste aber kaum etwas über die kurzlebigen Zwischenzustände, die den Verlauf und vor allem das Ergebnis der Reaktion entscheidend bestimmen.

Um diese Zwischenzustände einzufangen, bedienten sich die Forscher einer brutalen Methode: Sie beschossen die frisch angeregten Moleküle nach wenigen Femtosekunden mit harten Röntgenblitzen des Röntgenlasers LCLS, einer von derzeit nur zwei Lichtquellen weltweit, die solche extrem kurzen und gleißend helle Pulse erzeugen können, und lösten dadurch Elektronen aus der innersten Hülle des zentralen Eisenatoms. Auf den nun freigewordenen Platz rutscht dann ein Elektron aus der äußeren Hülle nach und sendet dabei seinerseits hartes Röntgenlicht aus. Das Spektrum des ausgesandten Lichts ist charakteristisch für den molekularen Quantenzustand, und liefert damit die gewünschten Informationen über die „Elektronenwolke“ um das zentrale Eisenatom. Diese Messung haben die Forscher vielfach zu verschiedenen Zeitpunkten wiederholt. Ähnlich wie ein Film ein Ereignis dokumentiert, zeigt die Arbeit der Forscher die nur einige 100 Femtosekunden dauernde Reise des angeregten Moleküls durch zwei nun eindeutig identifizierte Zwischenzustände in den Endzustand. „Unsere Experimente profitieren erheblich von den einzigartigen Forschungsmöglichkeiten an den neu entwickelten Röntgenlasern“, sagt Co-Autorin Katharina Kubiček, Wissenschaftlerin bei DESY und dem Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie, die zurzeit als Peter Paul Ewald-Stipendiatin der Volkswagen-Stiftung am PULSE-Institut am SLAC in Stanford arbeitet. „Im Gegensatz zu den meisten herkömmlichen Techniken können wir mit den LCLS-Röntgenblitzen gezielt das Eisenatom im Zentrum des Moleküls untersuchen, in dem die interessanten Prozesse stattfinden.“

„Allein durch diese Messung kennen wir den Quantenzustand der Elektronen noch nicht, aber durch einen Vergleich mit Modellkomplexen konnten wir mit 95prozentiger Wahrscheinlichkeit feststellen, wie diese aussehen“, erklärt Co-Autor Kelly J. Gaffney, Wissenschaftler bei SLAC.

„Damit ist uns ein wichtiger Schritt hin zu einer Hochgeschwindigkeits-Kamera für Moleküle gelungen. Während andere Experimente die Bewegung der Atome zeigen, konnten wir auch die kleinsten energetischen und magnetischen Details der Elektronenwolken sichtbar machen, die diese Bewegungen auslösen“, sagt Wojciech Gawelda, Wissenschaftler bei European XFEL und Mitautor der Veröffentlichung. „So wie der vom Baum fallende Apfel von Ast zu Ast springt und schließlich auf den Boden fällt, konnten wir den Weg der Reaktion genau verfolgen. Das bietet die Chance, chemische Reaktionen besser als bisher vorhersagen und künftig beeinflussen oder gar kontrollieren zu können. Mit einer solchen Kamera könnten Forscher beispielsweise Molekülsysteme testen, die effizient Sonnenenergie umwandeln oder umweltfreundlich Schadstoffe aus der Abluft unschädlich machen können.“

Ein neuartiges wissenschaftliches Instrument am European XFEL wird ab 2017 noch detailschärfere echte Ultrahochgeschwindigkeitsfilme aufnehmen können. „Unser FXE-Instrument (Femtosekunden-Röntgenexperiment-Instrument) wird nicht nur Untersuchungen wie die hier in Nature publizierten ermöglichen, sondern gleichzeitig weitere für unterschiedliche Moleküle geeignete Kameras bereitstellen, um noch mehr Informationen sowohl über die sich bewegenden Atome als auch über die Änderungen der Elektronen in Zeitfenstern von wenigen Femtosekunden zu erhalten. Damit werden wir erstmals ein modernes molekulares Mikroskop haben, das mit Ultrahochgeschwindigkeit jede noch so kleine Bewegung im Molekül registriert“, erklärt Bressler.

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