Wenn auftauende Gletscher Schadstoffe wieder freisetzen

19.11.2014 - Schweiz

Wenn Gletscher infolge des Klimawandels vermehrt schmelzen, verändert sich nicht nur das Landschaftsbild. Auftauende Gletscher geben auch viele zuvor im Eis gespeicherte Schadstoffe industriellen Ursprungs in die Umwelt frei. Forschende des Paul Scherrer Instituts PSI, der Empa, der ETH Zürich und der Universität Bern haben im Rahmen eines Nationalfondsprojekts nun zum ersten Mal die Konzentration einer Klasse solcher Schadstoffe – der polychlorierten Biphenylen (PCB) – im Eis eines Alpengletschers genau gemessen. Die Messungen zeigen: Dank des mittlerweile weltweit gültigen Verbots der PCB sind die PCB-Konzentrationen in der Atmosphäre seit den 1970er Jahren zurückgegangen. Doch durch das voranschreitende Schmelzen der Gletscher droht diese Altlast wieder in die Umwelt zu gelangen.

Aurel Schwerzmann

Eisbohrung am Fiescherhorngletscher mit Bohrzelt im Hintergrund.

Die Gletscherlandschaft der Alpen hat sich durch den Klimawandel in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Wo sich einst lange Gletscherzungen erstreckten, finden sich heute oft nur noch vereinzelte Eisfelder und im Gegenzug bilden sich Bergseen; in tiefen Lagen sind die Gletscher weggeschmolzen. Dies verändert nicht nur das Erscheinungsbild der Alpen, sondern hat unter anderem auch Einfluss auf den Wasserhaushalt, sind Gletscher doch eine wichtige Süsswasserquelle der Alpenregionen. Zudem setzen die auftauenden Gletscher Schadstoffe, die sich über längere Zeiten darin eingelagert hatten, wieder frei.

Dass Stoffe aus Niederschlag und der Luft im Gletschereis gespeichert werden, ist seit langem bekannt. Dies wird genutzt, um das Vorkommen von Schadstoffen in der Atmosphäre über die vergangenen Jahrzehnte zu rekonstruieren, indem man tief in das Eis der Gletscher bohrt und die entnommenen Eisbohrkerne auf ihren Schadstoffgehalt untersucht. In zwei kürzlich im Rahmen von zwei Dissertationen durchgeführten Studien haben Forschende des PSI, der Empa, der ETH Zürich, und der Universität Bern zum ersten Mal die Konzentrationen einer Klasse industrieller Schadstoffe – der polychlorierten Biphenylen (PCB) – im Eis eines Alpengletschers genau gemessen. Die Forschenden untersuchten zudem erstmals im Detail wie diese Schadstoffe im Gletscher gespeichert werden.

Im Mittelpunkt der neuen Studien standen chlorhaltige organische Substanzen, als polychlorierte Biphenyle (PCB) bekannt, die im 20. Jahrhundert eine breite industrielle Anwendung gefunden haben. Sie kamen aufgrund ihrer elektrisch isolierenden und flammenhemmenden Eigenschaften vielfach zum Einsatz, etwa in Transformatoren und Kondensatoren, aber auch in Fugendichtungen und Lacken. Die PCB gehören zur Klasse der persistenten organischen Schadstoffe – schwer abbaubare Substanzen, die sich insbesondere in Lebewesen anreichern können und auf diese negative Auswirkungen haben können. PCB werden über den Magen-Darm-Trakt, aber auch über die Haut und die Lungen aufgenommen, verteilen sich rasch im Körper und reichern sich im Fettgewebe an. Die Aufnahme von grösseren Mengen führt zu akuten Beschwerden der Haut wie Chlorakne, verursacht Leber-, Milz- und Nierenschäden und schwächt das Immunsystem.

Die Produktion und Verwendung von PCB wurden bereits in den 1970er Jahren in der Schweiz eingeschränkt und 2004 mit der Stockholmer Konvention weltweit endgültig eingestellt. Doch da diese Verbindungen eben sehr stabil sind, lassen sie sich noch heute selbst in entlegenen Regionen nachweisen. Allerdings fehlen derzeit direkte Messungen, die es erlauben würden, ihre Konzentration in der Umwelt über längere Zeiträume zu bestimmen. Diese Wissenslücke schliesst nun der erste Teil der Studien.

Altlast bleibt – trotz wirksamen Verbots

Die Anwendung einer neuen analytischen Methode ermöglichte erstmals, die äusserst niedrigen Konzentrationen der chlorierten organischen Schadstoffe im Gletschereis genauestens zu bestimmen. Der dazu untersuchte Eisbohrkern vom Fiescherhorngletscher umfasst den gesamten Zeitraum der Produktion und industriellen Nutzung der PCB, also die Jahre 1940 bis 2002. Die gefundenen Konzentrationen lagen für verschiedene untersuchte PCBs bei 0.5 bis 5 Nanogramm pro Liter geschmolzenen Eises. Die Messungen am Eisbohrkern zeigen, dass sich die Konzentration der PCB von 1940 bis in die 1970er Jahre im Durchschnitt verachtfachte. Im jüngeren Eis des Bohrkernes kann man wiederum ablesen, dass die Konzentration inzwischen wieder ungefähr auf den Wert von 1940 gesunken ist. Die Forschenden betonen aber, dass das Problem damit nicht gelöst ist, denn durch das Schmelzen der Gletscher können diese bisher im Eis eingelagerten Stoffe wieder in die Umwelt gelangen.

Die Rolle des Schmelzwassers

Um aus den gewonnenen Daten die Luftkonzentrationen der PCBs bis in das Jahr 1940 zu rekonstruieren, müssen die Forschenden verstehen, wie die Umlagerung der Chemikalien im Gletscher abläuft. Solche Rekonstruktionen werden allerdings durch das Auftreten von Schmelzwasser in den immer wärmeren Gletschern erschwert; das Schmelzwasser kann nämlich die Verunreinigungen auswaschen und umverteilen. Zudem ist bekannt, dass mit dem Schmelzwasser die Verunreinigungen auch in die Bergseen gelangen und sich somit in der Umwelt dieser abgelegenen und unberührten Gegenden weiter ausbreiten können.

Dem Weg der Schadstoffe im Gletscher auf der Spur

Derzeit bestehen erhebliche Wissenslücken darüber, wie die Schadstoffe in Alpengletschern transportiert werden, insbesondere wenn Schmelzwasser auftritt. Durch die enge Zusammenarbeit der beteiligten Forschungsgruppen konnte nun der Weg der Schadstoffe in einem Gletscher verfolgt und die wichtigen zugrundeliegenden Prozesse -- Aufnahme der Schadstoffe aus der Luft, Einlagerung in das Eis oder an im Gletscher enthaltenen Feinstaubpartikeln und Wiederfreisetzung in die Luft -- untersucht werden.

Diese Prozesse werden mit Hilfe einer Modellierung des Umweltverhaltens der Schadstoffe untersucht. Das neu entwickelte Modell beschreibt die Dynamik des Gletschereises sowie zum ersten Mal die physikalischen Prozesse im Gletscher. Das Modell zeigt, dass die Schadstoffe je nach chemisch-physikalischen Eigenschaften mit unterschiedlicher Effizienz im Gletscher gespeichert werden. Entscheidend scheinen die Flüchtigkeit, die Löslichkeit in Wasser, und die Tendenz der Chemikalien, sich an dem Eis anzulagern. Für die Verbindungen, die besonders gut in dem Gletschereis gespeichert werden, konnten die im Eisbohrkern gemessenen Konzentrationsprofile vom Modell rekonstruiert werden. „Die zugrundeliegenden chemischen Eigenschaften der Schadstoffe und die Gletscherdynamik scheinen also vom Modell richtig beschrieben zu werden, sodass wir das Schicksal dieser Verbindungen in Gletschern vorhersagen können“, sagt Margit Schwikowski, die den Beitrag des PSI zur Studie leitete. In weiteren Arbeiten soll nun untersucht werden, wie stark Gletscher über das Schmelzwasser die Bergseen und somit die nähere Umwelt belasten.

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