Europa verliert als Chemiemarkt weiter an Gewicht
Globaler Chemiemarkt wird bis 2035 auf 5,6 Billionen Euro anwachsen - Asien spielt eine dominante Rolle
Besonders betroffen ist die europäische Chemieindustrie: Diese soll bis 2035 jährlich nur um 1,5 Prozent wachsen. Neben einem schwach wachsenden Heimatmarkt stellen gestiegene Rohstoff- und Energiekosten und höhere Aufwendungen wegen verschärfter EU-Regularien wichtige Hürden für die Branche dar, dies ergibt die neue Roland Berger-Studie "Chemicals 2035 – Gearing up for growth: How Europe´s chemical industry can gain traction in a digitized world".
"Obwohl europäische Chemieunternehmen eine hohe Produktivität vorweisen und sehr innovativ sind, konsolidiert sich der Markt seit Jahren, vor allem in Europa", erklärt Martin Erharter, Partner von Roland Berger Strategy Consultants. "Wichtige Themen wie die zunehmende Digitalisierung der Industrie und neue Kundenanforderungen setzen Chemiekonzerne immer stärker unter Druck."
Fünf Treiber bestimmen die globale Marktentwicklung
Der Anteil Europas am weltweiten Markt ist seit Jahren rückläufig: Betrug dieser im Jahr 2000 noch ein Drittel, so liegt er heute bei 19 Prozent, Tendenz weiterhin abnehmend. So schätzen die Roland Berger-Experten, dass der europäische Markt, der als Heimatmarkt für die europäische Chemieindustrie eine wichtige Bedeutung hat, bis 2035 nur noch einen Anteil von 13 Prozent am globalen Markt haben wird. "Die asiatischen Märkte, die heute schon eine dominante Rolle spielen, werden hingegen immer wichtiger für die Chemiebranche", prognostiziert Roland Berger-Partner Alexander Keller. "Bis 2035 wird Asien rund 62 Prozent des Marktes ausmachen und Chemiekonzerne vor neue Herausforderungen stellen."
Für diese Entwicklung der Chemieindustrie sind nach Ansicht der Roland Berger-Experten vor allem fünf Treiber verantwortlich:
- Kostengünstiger Zugang zu Rohstoffen: Regionen wie der Nahe Osten bauen ihre Chemieproduktion wegen der niedrigen Rohstoffpreise stark aus. So liegen etwa die Produktionskosten für eine Tonne Äthylen bei ca. 250 Dollar – das ist die Hälfte der europäischen Produktionskosten. Ebenfalls setzen amerikanische Unternehmen durch das Fracking die Margen europäischer Firmen unter Druck. Der Einsatz von Biorohstoffen steht zwar auf der Agenda vieler Konzerne, allerdings ist ihre Verwendung derzeit noch unwirtschaftlich.
- Neue Chemie-Cluster außerhalb Europas: Aufstrebende Länder wie China und Indien bauen vor Ort ihre chemische Produktion aus und werden so immer unabhängiger von europäischen Exporten. So plant Indien z.B., bis 2016 Polyethylene zu exportieren, anstatt zu importieren. Auch China setzt verstärkt auf den Ausbau seiner Chemieparks in der Nähe der Abnehmerindustrien – für westliche Firmen eine spannende Entwicklung: "China steht wegen der starken Nachfrage nach Chemieerzeugnissen im Fokus vieler westlicher Konzerne. Diese fahren ihr Engagement in Europa immer stärker zurück und investieren zunehmend in China, um ihre Umsätze vor Ort anzukurbeln", erläutert Martin Erharter.
- Regulierung erhöht Kosten: Im Vergleich zu anderen Ländern ist Europa der am strengsten regulierte Markt der Welt. Seit 2008 hat sich die Zahl der EU-Regulierungen vor allem im Bereich des Umweltschutzes um fast 60 Prozent erhöht. Dadurch sind die Kosten für Unternehmen signifikant gestiegen.
- Verlagerung der Produktion nach Asien: Durch die weitere Verlagerung der Produktion außerhalb Europas laufen die Firmen Gefahr, ihre Kundenbasis für Premiumprodukte zu verlieren. "Viele Unternehmen fokussieren daher stärker auf das Life Science-Geschäft, da hier die Profitabilität höher und der Markt weniger volatil ist.
- Kundenwünsche stärker berücksichtigen: Kunden werden immer anspruchsvoller: Sie verlangen Zusatzleistungen und eine höhere Funktionalität der Produkte. Dies setzt hohe Investitionen in die Verbesserung der Chemieerzeugnisse voraus. Viele Chemiekonzerne haben daher bereits den Wandel vom reinen Hersteller hin zum Lösungsanbieter vollzogen.
Chemie 4.0: Der nächste evolutionäre Schritt der Chemieindustrie
Diese Trends werden die Chemieindustrie in den kommenden Jahren sehr stark beeinflussen; eine neue Welt der Chemie 4.0 wird dadurch entstehen. "Die neuen Herausforderungen betreffen die gesamte Wertschöpfungskette der Chemieindustrie", sagt Roland Berger-Partner Alexander Keller. "In einem anwendungsgetriebenen Umfeld werden das Verständnis für den Kunden und die Zusammenarbeit mit ihm immer wichtiger, um Mehrwert zu schaffen und langfristig wettbewerbsfähig zu sein."
Chemieunternehmen sollten auch von den erheblichen Vorteilen von Industrie 4.0 profitieren: Sie erlaubt eine erheblich effizientere und auf den Kunden abgestimmte Produktion, einschließlich der Nutzung von Kundendaten entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Nur Unternehmen, die die entstehenden Möglichkeiten voll ausnutzen, werden langfristig erfolgreich sein.