Quantenmaterie ohne Gedächtnisverlust

Wissenschaftler beobachten Anzeichen für Vielteilchen-Lokalisation in einem geschlossenen Quantensystem.

08.07.2016 - Deutschland

Wenn gewöhnliche Vielteilchensysteme ins Gleichgewicht kommen, verlieren sie sämtliche Informationen über ihren ursprünglichen Zustand. Diese Erfahrung machen wir zum Beispiel jeden Morgen, wenn wir uns Milch in den Kaffee gießen. Milch und Kaffee mischen sich so perfekt, dass es sich nicht mehr sagen lässt, wie genau diese beiden Flüssigkeiten zusammen gekommen sind. Das gleiche Verhalten legen auch fast alle Quantensysteme an den Tag. Allerdings wurde vor kurzem ein neues Phänomen vorher gesagt, die sogenannte „Vielteilchen-Lokalisation“. Sie erlaubt es gut isolierten Quantensystemen, ihren anfänglichen Zustand auf ewig im Gedächtnis zu behalten. Nun hat ein Wissenschaftlerteam um Dr. Christian Groß und Prof. Immanuel Bloch (Direktor am MPQ und Lehrstuhl für Quantenoptik an der LMU München) in Zusammenarbeit mit David Huse (Princeton University) starke Hinweise für das Auftreten dieses Phänomens in einem zweidimensionalen Quantensystem aus kalten Rubidiumatomen erhalten.

Die Wissenschaftler beobachteten, dass sich oberhalb eines bestimmten Grads an Unordnung, die dem System zu Anfang aufgeprägt wurde, ein Gleichgewichtszustand einstellte, der noch detaillierte mikroskopisch Informationen über seine Vergangenheit enthielt. „Wir waren in der Lage, den Übergang von einem thermischen Gleichgewichtszustand in eine Vielteilchen-lokalisierte Phase zu verfolgen“, betont Dr. Christian Groß. „Das ist die erste derartige Beobachtung in einem Bereich, der mit modernen Simulationstechniken auf klassischen Computern nicht zugänglich ist.“ Das Experiment ist nicht nur von grundsätzlichem Interesse, sondern könnte auch zu neuen Wegen führen, Quanteninformation zu speichern.

Motiviert durch die fundamentale Fragestellung, wie sich Teilchen, die miteinander in Wechselwirkung stehen, in einem ungeordneten System verhalten, entdeckte der amerikanische Physiker Philip Warren Anderson in den 50er Jahren ein Phänomen, dass heute „Anderson Lokalisation“ genannt wird. Diese besagt, dass die Unordnung jegliche Bewegung und damit auch jeglichen Transport verhindert, wenn keine Wechselwirkung zwischen den Teilchen stattfindet. Doch was geschieht, wenn Unordnung und Wechselwirkung zusammentreffen? Wird es aufgrund der Wechselwirkung doch zu einem Transport von Teilchen kommen, oder wird die Lokalisation auch bei hohen Energien fortbestehen? Bislang gibt es kein theoretisches Modell, das verlässlich vorhersagen könnte, wie sich ein geschlossenes Quantensystem unter diesen Bedingungen entwickelt, wenngleich die Möglichkeit der Lokalisierung theoretisch erwogen wurde.

Um diese Fragen experimentell untersuchen zu können, müssen strenge Anforderungen an die Kontrollierbarkeit und Abschirmung des Systems erfüllt sein. In dem hier beschriebenen Experiment werden extrem kalte Rubidiumatome in ein optisches Gitter geladen, eine Aneinanderreihung mikroskopisch kleiner Lichtfallen, die durch Interferenz mehrerer Laserstrahlen entsteht. Auf das atomare Ensemble wird ein zufällig mit einem Computer erzeugtes Lichtmuster projiziert. Dies bewirkt, dass die Tiefe der kleinen Lichtfallen nun von Gitterplatz zu Gitterplatz variiert, was einer gewissen Unordnung des Systems entspricht. Die Gruppe von Prof. Bloch hat ihre technischen Methoden mittlerweile so weit entwickelt, dass sie die Position der Atome und die Wechselwirkung zwischen ihnen fast nach Belieben steuern kann. Mit einem hochauflösenden Mikroskop kann der Ort jedes Atoms über das von ihm ausgesandte Fluoreszenzlicht mit höchster Genauigkeit bestimmt werden. Außerdem kann die anfängliche Dichteverteilung genau eingestellt und ihre weitere Entwicklung für verschiedene Zeitintervalle gemessen werden.

Mit diesen Werkzeugen kann das nicht-thermische Verhalten des atomaren Systems mit einer konzeptionell recht einfachen Methode getestet werden. Jeder thermische Gleichgewichtszustand in einem geschlossenen System spiegelt die Symmetrie seines Behälters wider. So bedeckt Wasser, das in eine runde Schüssel geschüttet wird, unmittelbar den ganzen Boden des Gefäßes. Ganz analog erzeugen die Wissenschaftler in dem atomaren Ensemble zu Beginn eine „Dichtestufe“, indem sie die Atome in der einen Hälfte des optischen Gitters mit Laserstrahlung „wegpusten“. Dann beobachten sie, wie sich die übrig gebliebenen Teilchen in der leeren Hälfte ausbreiten. Solange die durch das Lichtmuster aufgeprägte Unordnung relativ klein ist, vergeht die Dichtestufe schnell, und die anfänglich leere bzw. gefüllte Hälfte gleichen sich immer mehr an. Anders, wenn die aufgeprägte Unordnung größer ist: Dann bleiben Spuren der anfänglichen Unregelmäßigkeiten bestehen, d.h., das System geht auch nach langen Zeitspannen in keinen thermischen Zustand über. „Wir beobachten, dass dieses nicht-thermische Verhalten oberhalb eines kritischen Wertes für die Unordnung sprunghaft einsetzt“, sagt Christian Groß. „Dieses Fehlen von Thermalisierung ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil es in einem System aus interagierenden Teilchen auftritt und sogar bei den hohen Energien, die wir in unserem Experiment testen, bestehen bleibt.“

Die Wissenschaftler deuten diese Beobachtung als den Übergang in eine neue Phase des Systems, die Vielteilchen-Lokalisation. Sie ist auf der einen Seite von grundlegendem Interesse, weil sie nicht durch klassische statistische Mechanik beschrieben werden kann. Auf der anderen Seite könnte das Fortbestehen der Information über den Anfangszustand als Quelle für Quanteninformationstechnologien genutzt werden. „Wir sollten dabei hervorheben, dass wir diese Ergebnisse für eine Systemgröße erzielen, die weit über numerisch zugängliche Skalen hinaus geht“, sagt Jae-yoon Choi, Postdoc am Experiment.

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