Sind Edelgase gar nicht so edel?

27.06.2017 - Deutschland

Wissenschaftlern des Wilhelm-Ostwald-Instituts für Physikalische und Theoretische Chemie der Universität Leipzig ist es gelungen, entgegen allgemeiner chemischer Intuition, die Edelgase Krypton und Xenon in einer Gasphasenreaktion chemisch zu binden. Ihre Ergebnisse stellen die Forscher in der Titelgeschichte der aktuellen Ausgabe des angesehenen Fachjournals "Angewandte Chemie" vor. Das Gesamtprojekt stand unter Federführung der Universität Bremen. Beteiligt waren zudem Wissenschaftler der Bergischen Universität Wuppertal und des US-amerikanischen Pacific Northwest National Laboratory (PNNL) in Richland.

Die sogenannten Edelgase sind farb- und geruchlose, nicht brennbare Gase. Sie kommen atomar statt molekular vor, gehen chemisch nahezu keine Verbindungen ein und werden deswegen gerne als Schutzgas eingesetzt. Der Grund für ihre Reaktionsträgheit ist ihre abgeschlossene Elektronenschale. Edelgashaltige chemische Verbindungen sind rar gesät. Wenn überhaupt, dann reagieren sie mit elektronenarmen Reaktionspartnern. Elektronenreiche Moleküle, sogenannte Anionen, sollten somit nicht mit Edelgasen reagieren.  

Dr. Jonas Warneke, der an der Universität Bremen promoviert hat und nun am Pacific Northwest National Laboratory in Richland arbeitet, beobachtete jedoch bereits vor einigen Jahren das ungewöhnliche Reaktionsverhalten eines elektronenreichen, aus zwölf Boratomen (B) und elf Chloratomen (Cl) bestehenden, sogenannten "Käfigmoleküls". Genau um dieses "Käfigmolekül" drehten sich nun die Studien der Leipziger Wissenschaftler vom Arbeitskreis um Prof. Dr. Knut Asmis. Mit Hilfe modernster experimenteller Methoden wiesen die Physikochemiker Martin Mayer und Max Grellmann vom Wilhelm-Ostwald-Institut die Bindung dieses Anions an die Edelgase Xenon und Krypton nach. "Chemikern sind nur eine Handvoll reaktiver Spezies bekannt, welche eine chemische Bindung zu den Edelgasen bei Raumtemperatur eingehen. Dass auch ausgesprochen elektronenreiche Moleküle dazu gehören, ist neu, völlig unerwartet und erzwingt einen Paradigmenwechsel", sagt Knut Asmis.

Um ein tieferes Verständnis für das ungewöhnliche Reaktionsverhalten des "Käfigmoleküls" zu erlangen, charakterisierten die Leipziger spektroskopisch die Bindungsstelle am Molekül. Dabei kam dessen "bipolarer" Charakter zum Vorschein: Das Käfigmolekül ist in seiner Gesamtheit zwar elektronenreich, besitzt jedoch lokal eine ausgeprägt elektronenarme Bindungstelle. Jonas Warneke sieht Parallelen zu der Göttin Helja aus der altnordischen Mythologie. "Ihre eine Körperhälfte ist die einer wunderschönen jungen Frau, die andere Seite ist in Dunkelheit gehüllt und wirkt wie eine lebende Tote."

Je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet, erhält man einen völlig anderen Eindruck. Schauen wir uns nun das "Käfigmolekül" von Weitem an, dann sehen wir die abweisende Gesamtladung des Teilchens. Betrachten wir es jedoch von Nahem, finden wir lokal auch eine anziehende Region, die erheblichen Elektronenmangel aufweist. "Genau an dieser Stelle wird die chemische Bindung mit dem Edelgasatom ausgebildet. Heljas leuchtende Seite, sozusagen!", so Asmis. Untermauert wurde diese Entdeckung durch aufwändige, quantenchemische Rechnungen der Kooperationspartner aus Bremen.

Die Erkenntnisse der Forscher zeigen, dass allein von der Ladung eines Teilchens nicht unmittelbar auf seine Reaktivität geschlossen werden kann. Die Anwendungsbereiche der analysierten Verbindungen erstrecken sich von der synthetischen Chemie über die Trennungschemie bis hin zur Medizin.

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